Julia Groß ist Patientenvertreterin im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Sie fordert eine bessere Einbindung des Erfahrungsschatzes von Erkrankten. Foto: Julia Groß / privat
Julia Groß ist Patientenvertreterin im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Sie fordert eine bessere Einbindung des Erfahrungsschatzes von Erkrankten. Foto: Julia Groß / privat

Ressource Patientenerfahrung wird zu wenig genutzt

Die Kritik am obersten Gremium im deutschen Gesundheitswesen, dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), entzündet sich häufig an seiner Zusammensetzung. Sie sei nicht ausgewogen und die Stimme der Patienten habe zu wenig Gewicht, heißt es. Julia Groß, Patientenvertreterin im G-BA, schildert im Gespräch mit Pharma Fakten ihre Erfahrungen und macht Vorschläge zur Verbesserung.

Patientenvertreter haben im Gemeinsamen Bundesausschuss kein Stimmrecht. Welchen Einfluss üben sie dennoch auf die Entscheidungen im G-BA aus?

Julia Groß: Der Einfluss ist gering – vergleichbar mit einer Oppositionspartei in einem Parlament. Die meisten Anträge der maßgeblichen Organisationen der Patientenvertretung werden abgelehnt. Mein Eindruck ist, dass diese jedoch manchmal zu einem späteren Zeitpunkt von einer der Parteien der „Gemeinsamen Selbstverwaltung“ als eigene Idee erneut auf die Tagesordnung gesetzt werden. Aber häufiger werden die Vorschläge und Anregungen der Patientenvertreter im Beratungsverfahren wegdiskutiert. Dann kommt es erst überhaupt nicht zu einem Antrag, den man ablehnen müsste.

Die Patientenvertretung setzt sich aus (chronisch-)kranken Menschen aus der Selbsthilfe und den Lobbyisten der sogenannten Beraterverbände zusammen. Der Gesetzgeber hat sie zur Einstimmigkeit all ihren Tuns verpflichtet. Das stellt ein weiteres Problem dar.

Wie wird die beratende Funktion in der Praxis umgesetzt?

Groß: Patientenvertreter können in allen Gremien des Gemeinsamen Bundesausschusses Anträge stellen und mitzuberaten. Außerdem sind die maßgeblichen Organisationen berechtigt, Teilnehmer in die Sitzungen zu entsenden. Diese Patientenvertreter bekommen alle Unterlagen und können sich einbringen. Hier und da beeinflussen die nicht-öffentlichen Beiträge dann durchaus das später zur Abstimmung stehende Arbeitsergebnis.

Hat es Entscheidungen des Gremiums gegeben, die Sie aus Patientensicht nicht teilen können? Und welche Vorgehensweise sehen Sie kritisch?

Groß: Die meisten Entscheidungen des Plenums fallen einstimmig. Die Streitigkeiten der Trägerorganisationen werden meiner Erfahrung nach vorher durch den kleinsten gemeinsamen Nenner aus dem Weg geräumt. Ganz selten entscheidet der Vorsitzende durch seine Stimme, wenn dies zuvor nicht gelungen ist. Käme kein Beschluss zustande, würde dies meist nur Probleme in der Versorgung verursachen.

Die maßgeblichen Organisationen bekommen ohnehin nur die Möglichkeit, einen Beschluss mitzutragen oder nicht mitzutragen. Eine Begründung für ein abweichendes Votum der Patientenvertretung wird nicht öffentlich gemacht, wer die Sitzung nicht selbst besucht hat, wird die Gründe der Patientenvertretung nicht erfahren. Reduziert auf eine Zustimmung oder Ablehnung werden die Kompromisse meist mitgetragen. Aus Arbeitsgruppen und Unterausschuss darf ich wegen der Schweigeverpflichtung nichts mitteilen.

Wie könnten die Interessen von Patienten im G-BA bzw. im Gesundheitswesen insgesamt besser zur Geltung kommen?

Groß: Die Zusammensetzung der Patientenvertretung ist zu ändern, die betroffenen Patienten sind gegenüber den Vertretern der Beraterverbände zu privilegieren. Man könnte den Beraterverbänden zum Beispiel das Vetorecht nehmen. Die einzelnen Patientenvertreter wären durch Fort- und Weiterbildung unabhängig zu machen. Das heißt: Die Finanzierung dieser Maßnahmen dürfte nicht mehr der Zensur durch die Träger des G-BA unterliegen. Es müsste einen vierten Unparteiischen geben, der von den Patientenvertretern gemeinsam mehrheitlich bestimmt wird.

Ein Grund, warum ich die Bedeutung der Selbsthilfe so hervorhebe, ist, dass die Betroffenen ihre Krankheit und alle dazugehörigen Aspekte am besten kennen. Dank der Vernetzung untereinander in Vereinen und im Internet haben sie hinsichtlich der Lebensqualität und Behandlungsziele mit Abstand den besten fachlichen Hintergrund. Beispielsweise kennen sie die Nebenwirkungen von Therapien und können sagen, in welchem Maße sie für wen tragbar sind. Niemand sonst im Gesundheitswesen hat diese Sicht auf die Behandlungsqualität. Dieses Wissen nicht für eine patientenorientierte Versorgung zu nutzen und sogar absichtlich zugunsten finanzieller Interessen zu übergehen, ist ein unentschuldbares Versäumnis. Das muss sich ändern.

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