Das Lesen von „Stenografischen Wortprotokollen“ gehört in der Regel nicht in die Kategorie „spannende Lektüre“ – vor allem nicht von solchen, in denen sich Experten gegenseitig mit Fachsprache traktieren. Die Anhörungsverfahren für neue Wirkstoffe zur Behandlung des Multiplen Myeloms sind eine Ausnahme von dieser Regel. Das Protokoll der Anhörung für den Wirkstoff Carfilzomib ist Beleg dafür, was sich in der Behandlung dieser Erkrankung in den vergangenen Jahren getan hat – und lässt erahnen, was sich in den kommenden Jahren höchstwahrscheinlich tun wird. Denn den Patienten und ihren behandelnden Ärzten steht mittlerweile ein ganzes Arsenal von Medikamenten zur Verfügung, das in den kommenden Jahren wohl noch wachsen wird.
Multiples Myelom immer besser behandelbar
Das Multiple Myelom (MM) ist eine nicht heilbare, aber immer besser behandelbare, seltene Krebserkrankung des Knochenmarks. Jährlich erkranken in Deutschland etwa 6000 Patienten – das durchschnittliche Alter bei Diagnose liegt bei knapp über 70. Es ist eine seltene Erkrankung. Wie sehr sich die Behandlung dieser Krankheit verändert hat, schildert im Anhörungsverfahren der Arzt Hans Salwender:
„Vor circa 25 Jahren, Anfang der 90er-Jahre, hat die Hälfte der Patienten mit dieser Erkrankung, die ich behandelt habe, etwa drei Jahre überlebt. Diese drei Jahre, diese Zeit, wo wir die Erkrankung bremsen konnten, waren geprägt von bestimmten Knochenveränderungen – die Knochen brachen, große Schmerzen –, Nierenfunktionseinschränkungen, und die Therapie war hochgradig toxisch. Patienten wurden damals noch mit Ganzkörperbestrahlungen behandelt. Sie waren teilweise monatelang im Krankenhaus mit größtem Leiden. Mittlerweile ist es so, dass eine ganze Reihe meiner Patienten zehn, 15 und mehr Jahre mit dieser Erkrankung nach Beginn der Behandlungsbedürftigkeit leben kann und vor allem ohne das große Leiden durch fortschreitende Erkrankung.“
Lebenserwartung steigt deutlich
Eine Erfahrung, die auch die Arbeitsgemeinschaft Multiples Myelom bestätigt. Sie macht den Patienten trotz der Schwere der Erkrankung ausdrücklich Mut. Es sei deutlich, „dass sich mittlerweile mit neuen Therapieoptionen die durchschnittliche Lebenserwartung auf mindestens fünf bis sieben Jahre mehr als verdoppelt hat. Viele Patientinnen und Patienten leben heute sogar mehr als zwölf Jahre bei guter Lebensqualität oder wie Jürgen M. mehr als 33 Jahre“, so heißt es auf der Webseite.
Auf dem Gebiet der MM-Forschung hat in den vergangenen Jahren ein bisher nicht dagewesener Fortschritt stattgefunden. In den 60er-Jahren gelang es mit den ersten Medikamenten, das durchschnittliche Überleben von 10 auf 24 Monate zu verlängern. Durch neue Arzneimitteltherapien konnte das Fünf-Jahresüberleben seit dem Jahr 2000 von ca. 33 Prozent auf 66 Prozent fast verdoppelt werden, wie der Onkologe Leif Bergsagel in seiner wissenschaftlichen Reise durch 50 Jahre Myelom-Forschung schildert1: In den vergangenen sechs Jahren, so schreibt er 2014, ist die Fünfjahres-Überlebensrate jedes Jahr um zwei Prozent gestiegen. „Wenn wir so weitermachen, erreichen wir die 100 Prozent in 25 Jahren.“ Durch die neuen Medikamente glaubt er allerdings, dass dieses Ziel in kürzerer Zeit erreicht werden kann: „Unsere Kinder werden ihren Fokus auf andere Tumoren richten müssen.“
Krankheit mit sehr unterschiedlichen Ursachen
Und noch etwas haben die Forscher über die Jahrzehnte gelernt: Genetisch betrachtet gibt es nicht den einen MM-Tumor. Vielmehr weiß man heute, dass die genetische Heterogenität eine wesentliche Ursache für Therapieversagen ist. Wer die Krankheit also in Richtung Chronifizierung oder sogar Heilung treiben will, braucht ein ganzes Instrumentarium an Alternativen. Vielfalt in der Therapie – und die Möglichkeit vieler Kombinationen – ist der Schlüssel zum Erfolg, um auf die genetische Vielfalt die passende Antwort zu finden bzw. im Falle von Resistenzbildungen Wahlmöglichkeiten zu haben. Ganz nebenbei zeigen sich hier die im AMNOG-Verfahren angelegten Limitationen. Die Denke, dass Produkt A besser sein muss als Produkt B, um einen Zusatznutzen zu erhalten, ist zu eng. Manche Präparate erweisen ihren Wert eben nicht darin, dass die besser sind als andere, sondern dadurch, dass sie die perfekte Kombination zu einem anderen darstellen, oder einfach die bessere Wahl sind, weil ein Patient das „bessere“ Produkt gar nicht verträgt.
Mit Pomalidomid, Panobinostat und eben jetzt Carfilzomib befindet sich bereits das dritte Produkt im AMNOG-Verfahren. Und es geht weiter. Mitte Mai hat die Europäische Kommission Elotuzumab zugelassen – laut Hersteller der damit erste und bisher einzige zugelassene immunaktivierende Antikörper für die Therapie bei MM in Europa. Daratumumab steht kurz vor der Zulassung und Ixazomib ist bereits im Zulassungsverfahren. Damit steigt das Arsenal der seit 2013 neu zugelassenen Präparate auf sechs.
Eine gute Nachricht, denn noch immer sterben in Deutschland jährlich 4.000 Menschen an dieser Krankheit.
1 Per Leif Bergsagel: Where We Were, Where We Are and Where We Are Going: Progress in Multiple Myeloma, 2014 ASCO Educational Book, S. 199-203, 199.