Jahrelang trat die MS-Forschung eher auf der Stelle, und es schien wenig Hoffnung für Patienten zu geben. In den vergangenen Jahren konnte sie allerdings durch die Entwicklung neuer Wirkstoffe und die Weiterentwicklung von Medikamenten Fortschritte erzielen. Wie wirkt sich das aktuell auf die Behandlung aus?
Dr. Gerd Meyer zu Hörste: Die Therapie der MS hat sich in den letzten Jahren grundlegend verändert und wird auch in Zukunft ein äußerst dynamisches Feld bleiben. Mit Einführung der beta-Interferon-Präparate und Glatirameracetat, einem Immunmodulator zur Behandlung der schubförmigen MS, vor inzwischen mehr als 20 Jahren stellte sich anfänglich die Frage, ob und wann MS-Patienten behandelt werden sollten. Durch die große Vielfalt der therapeutischen Möglichkeiten (Natalizumab, Fingolimod, Dimethylfumarat, Teriflunomid, Alemtuzumab) in den vergangenen Jahren ist MS-Therapie inzwischen differenziert und an den individuellen Krankheitsverlauf angepasst möglich.
Das bedeutet aber auch, dass derzeit vielmehr die Frage zu stellen ist, wie jeder Patient individuell zu behandeln ist. Dabei ist eine sorgfältige Risiko/Nutzen-Abwägung und auch eine Anpassung an die individuellen Bedürfnisse des Patienten erforderlich. Dies erhöht die Qualität aber auch die Komplexität der Versorgung von MS-Patienten.
In welche Richtungen wird sich die MS-Forschung in Zukunft bewegen?
Meyer zu Hörste: Alle derzeitigen Therapien sind nur in der schubförmigen Phase der MS oder maximal in den früheren Phasen der sekundär chronisch progressiven MS wirksam. Nach unserem derzeitigen Verständnis der Erkrankung dominiert in der schubförmigen Phase die Inflammation, also der Entzündung, die aktuell meist gut zu behandeln ist. In der chronisch progredienten Phase überwiegt jedoch der axonale und neuronale Verlust. Damit ist der Verlust von Nervenfasern und Nervenzellen gemeint. Hier sind somit gänzlich andere Therapieansätze erforderlich. Die große zukünftige Herausforderung wird in der Etablierung von wirksamen Therapien der chronischen MS-Phase, wie zum Beispiel neuroprotektiver Therapieansätze, liegen.
Wie stehen Ihrer Meinung nach die Chancen für eine Heilung für bestimmte Verlaufsformen in den nächsten Jahren?
Meyer zu Hörste: Wenn man als Heilung ein vollständiges Fehlen von Krankheitsaktivität in Form von Schüben oder Behinderungsprogression auch ohne Behandlung definiert, dann halte ich eine Heilung auch in Zukunft für unwahrscheinlich. Eine einmalige Behandlung, die MS final heilt, wird es meiner Meinung nach auch in Zukunft nicht geben. Wenn man Heilung als vollständige Unterdrückung der Krankheitsaktivität durch kontinuierliche und fortlaufende Behandlung definiert, stehen die Chancen jedoch sehr gut, dies für den Großteil der Patienten zu erreichen.