Wenn Sie einige Jahre zurückblicken – wie haben sich seither die MS-Therapien verändert?
Prof. Sven Meuth: Sicherlich hat sich innerhalb der Neuroimmunologie die Behandlung der Multiplen Sklerose mit am weitesten und schnellsten entwickelt. Es stehen nun einige Medikamente mit unterschiedlichen Wirkmechanismen zur Verfügung. Das bedeutet: Patienten können durchaus mit dem Medikament B behandelt werden, falls Medikament A nicht anspricht. Dass man Optionen zum Wechseln hat, ist insgesamt eine gute Entwicklung. Dadurch ist es bei vielen Patienten möglich, Stabilität zu erreichen und die Schubrate zu reduzieren. So kommen wir dem Ziel NEDA – das steht für No Evidence of Disease Activity, also kein Schub, kein Fortschreiten der Krankheit und keine Aktivität in der Bildgebung – immer näher.
Was sollte bei MS noch intensiver erforscht werden?
Prof. Meuth: Generell gibt es bei MS drei große Bereiche: Erstens das Immunsystem. Zweitens hat die Erkrankung auch mit dem Übertritt von der Blut-Hirn-Schranke zum Zentralen Nervensystem (ZNS) zu tun. Und drittens ist entscheidend, welche Schäden im ZNS entstehen. Während wir Punkt eins und zwei mittlerweile sehr gut verstanden haben, müssen wir bei Punkt drei noch mehr forschen und schützende Medikamente entwickeln.
Die B-Zelle gilt als ein neuer Angriffspunkt für bestimmte Multiple-Sklerose-Erkrankungen.
Prof. Meuth: Bei einer Form der MS ist der pathologische Untertyp B-Zell-lastig. Lange Zeit gab es überhaupt keinen Ansatz, diese zu behandeln. Fortschritte gab es durch die Verwendung von Antikörpern. In Schweden wurde bereits früher häufiger mit Rituximab praktiziert. Mit dem neuen Wirkstoff Ocrelizumab jedoch zeigte sich eine Beeinflussbarkeit auch progredienter, d.h. fortschreitender MS-Patienten. Dadurch konnte die Behinderung um 25 Prozent reduziert werden. Das mag auf dem ersten Blick nicht viel erscheinen. Doch wer den Beginn dieser Forschung erlebt hat, weiß, dass dies einen Meilenstein bedeutet. Zum ersten Mal überhaupt zeigt ein Präparat, dass man diese MS-Verlaufsform beeinflussen kann. Somit liegt ein „proof of concept“ vor. Das ist ein Highlight in den vergangenen Jahren. Zehn bis 15 Prozent der Patienten, denen jahrzehntelang nichts geholfen hat, können nun das Gefühl haben: Da gibt es ja doch noch etwas.
Wenn Sie einige Jahre in die Zukunft schauen: Wie wird sich die Behandlung von MS weiter entwickeln?
Prof. Meuth: Noch gibt es kein Anzeichen für eine Vollremission, und dazu sollte man keine überzogenen Erwartungshaltungen schüren. Mit den neuen Medikamenten gelingt es uns immer länger und besser, Patienten frei von Schüben oder überhaupt vor dem Eintritt einer progredienten MS zu bewahren. Meine Vorstellung ist, dass wir in den nächsten Jahren auf einem sehr guten Niveau behandeln und die Krankheit weitestgehend in Schach halten können. Dann sollte sich im Idealfall der Alterungsprozess von MS-Patienten kaum von einem Gesunden unterscheiden. Einzelne Patienten mit schwerer behandelbaren Ausprägungen wird es jedoch wohl immer noch geben. Aber dass eine MS-Diagnose wie vor 25 Jahren automatisch mit einem Leben im Rollstuhl verbunden wird, ist nicht mehr aktuell.