Professor Gerhard Gründer, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Universitätsklinikum Aachen, hat die Debatte verfolgt. Er vertrat bei der Anhörung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zu diesem Präparat die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Der Mediziner empfiehlt, die AMNOG-Kriterien auf den Prüfstand zu stellen.
Herr Professor Gründer, im Unterschied zu Krebsbehandlungen, für die bisweilen mehr als 200 Euro pro Tag ausgegeben werden, ist den Krankenkassen bei der Behandlung von Depressionen bereits 1 Euro pro Tag zu viel. Woran liegt das?
Professor Dr. Gerhard Gründer: Das liegt am Preisniveau für Antidepressiva – die billigsten generischen SSRIs, also Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, sind für einen einstelligen Cent-Betrag pro Tagesdosis zu haben. Dieser Preis wurde auch in diesem Fall geboten. Diesem neuen Pharmakon wurde kein Zusatznutzen bescheinigt und deshalb musste sich der Preis am billigsten generischen Preis in der Referenzgruppe orientieren. So ist der Markt und so ist das Gesetz.
Aber dieses Medikament war laut Herstellerangaben als Zusatztherapie für Patienten gedacht, die keine SSRIs vertragen – für diese Patienten hätte also durchaus ein Zusatznutzen vorgelegen.
Prof. Gründer: Nun, das war der Wunsch des Herstellers, das so zu betrachten. Aber dieser Sichtweise ist der G-BA nicht gefolgt.
Zu Recht?
Prof. Gründer: Das ist nicht so einfach zu beantworten. Einerseits gibt es bestimmte Patientengruppen, für die dieses Medikament gut und wichtig gewesen wäre. Andererseits legen das Gesetz und die Bewertungsverfahren dem G-BA Grenzen auf – und innerhalb dieser Grenzen war es ein faires Verfahren. Ich habe viele Diskussionen mit dem G-BA geführt und kann sagen: Das ist kein Club von Betonköpfen, sondern die Mitglieder dort verstehen durchaus, wovon wir reden und wie wir argumentieren.
Wo liegt dann das Problem?
Prof. Gründer: Ich glaube, wir müssen uns generell um das System der Nutzenbewertung Gedanken machen. Wir müssen uns fragen: Warum ist in Deutschland ein neues Medikament mit einem etwas anderen Wirkprofil nicht verfügbar? Prüfen wir vielleicht falsch? Das ist die entscheidende Frage.
Was müsste sich bei der Nutzenbewertung ändern?
Prof. Gründer: Zunächst einmal müssen wir anerkennen, dass es bei psychischen Erkrankungen sehr heterogene Patientenkollektive gibt. Es gibt, wenn man ICD-Kriterien zugrunde legt, 200 verschiedene Patiententypen mit dem Krankheitsbild „Depression“ – wenn wir diese Patienten alle mit einem oder zwei verschiedenen Medikamenten behandeln, dann ist es extrem schwierig, eine Überlegenheit der einen oder anderen Substanz zu zeigen. Uns fehlen leider Biomarker, die zeigen, der eine Patient spricht besser auf einen simplen SSRI an, aber der andere braucht ein komplexeres Medikament. Aber ich sehe auch die Pharma-Industrie in der Pflicht – ihr müsste man aufgeben, ihre Studien anders zu machen.
Inwiefern?
Prof. Gründer: Wir brauchen Studien, die eher langfristig angelegt sind und in denen auch die Lebensqualität oder die soziale Leistungsfähigkeit betrachtet werden. Ich habe mit dem IQWiG schon Diskussionen geführt, bei denen die Vertreter eines Pharma-Unternehmens durchaus nach Daten zur Lebensqualität gefragt wurden. Solche Studien müssen gemacht werden, ansonsten darf man sich nachher nicht wundern. Ich sehe das übrigens als einen positiven Aspekt am Arzneimittelneuordnungsgesetz AMNOG – man wird sich ein bisschen bewegen müssen. Die Pharma-Industrie wird neue Studiendesigns finden und auch längerfristige Studien machen müssen. Das AMNOG muss Denkprozesse in Gang setzen, die dazu führen, den Nutzen von Psychopharmaka besser messbar, greifbar und vergleichbar zu machen. Wir haben es da schwerer als die Onkologen – sie weisen einfach nach, dass die Überlebenszeit sich um drei Monate verlängert. Das ist ein harter, gut messbarer Parameter. In der Psychiatrie haben wir es neben der Biologie mit subjektiven Leiden zu tun, die nicht nur mit biologischen Begriffen zu beschreiben sind.
Wie häufig werden Antidepressiva eigentlich verordnet?
Prof. Gründer: Im Jahr 2005 wurden in Deutschland 717 Millionen Tagesdosen verordnet, im Jahr 2014 waren es rund doppelt so viele, nämlich 1,4 Milliarden. Wenn man das auf die Bevölkerung umrechnet, kommt man zu dem Ergebnis: Jeder Bürger, vom Säugling bis zum Greis, wird pro Jahr rund 17 Tage lang mit Antidepressiva behandelt. In den USA nehmen schon zwischen 10 und 20 Prozent der Menschen durchgehend Antidepressiva. Da muss man sich doch fragen: Brauchen all diese Menschen diese Tabletten wirklich? Die Diskussion sollte sich also nicht auf ein einzelnes Pharmakon und die Frage beschränken, ob es einen Euro oder weniger kosten darf, sondern wir sollten uns lieber fragen: Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft? Und hat die Psychiatrie die richtigen Antworten darauf?