Auf den ersten Blick hat die Idee etwas Bestechendes: Die Bewertungen der AMNOG-geprüften Arzneimittel sollen in die Praxissoftware der verordnenden Ärzte eingespeist werden. So sieht es das “GKV-Arzneimittelversorgungs-stärkungsgesetz” (AM-VSG) vor, das sich gerade im parlamentarischen Hürdenlauf befindet und im April 2017 verabschiedet sein soll. Ärztinnen und Ärzte sollen so in ihrer Therapieentscheidung unterstützt werden.
Seitdem geht das große Rätselraten um: Wie soll ein solches System ausschauen? Vertreter der Krankenkassen wollen sicherstellen, dass der Wissenstransfer „industrieneutral“ stattfindet. Pharmazeutischen Unternehmen und deren Verbänden, aber auch den ärztlichen Fachgesellschaften ist wichtig, dass das Arztinformationssystem (AIS) nicht zur Verordnungssteuerung bzw. als Eingriff in die ärztliche Therapiefreiheit missbraucht wird. Bisher scheint nur eines klar: Ein Ampelsystem, so wie es vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen vorgeschlagen worden war, wird es wohl nicht. AMNOG-Beschlüsse sind mit einer Dreifarbenlehre nicht abbildbar.
AMNOG-Bewertungen sind in der Regel komplex
Das liegt zum einen an den Beschlüssen selbst. Kein Einzelfall, sondern eher die Regel ist, dass die Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zur Bewertung der Arzneimittel komplex sind. Und selbst da, wo sie es nicht sind, bleiben Zweifel an der Allgemeingültigkeit der AMNOG-Beschlüsse, wie kürzlich ein internationaler Vergleich gezeigt hat. Eine Studie kam zu dem Ergebnis, dass der G-BA Medikamente deutlich restriktiver beurteilt als es seine Pendants in Großbritannien oder Australien tun – was zeigt, dass Entscheidungen über den Nutzen von Medikamenten nicht unfehlbar sind. Sie sind vielmehr Wertentscheidung, bei denen die zuständigen Behörden offensichtlich zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen. Auch die Aufsplitterung in verschiedene Patientengruppen mit jeweils unterschiedlichen Bewertungen verhindert, dass sich die Ergebnisse einfach und kompakt kommunizieren lassen.
Auch das „Notenschema“ des AMNOG ist nichts für Menschen, die es einfach mögen. Beurteilt wird qualitativ auf drei Stufen – gefragt wird: Gibt es nur einen Anhaltspunkt, immerhin einen Hinweis oder gar einen Beleg für einen Zusatznutzen? Die quantitative Bewertung kennt dann sogar sechs Stufen: Gibt es keinen oder einen geringeren Nutzen? Oder ist der Zusatznutzen vielleicht gering, beträchtlich, erheblich oder nicht quantifizierbar?
Wie aber soll ein Arzt entscheiden, wenn seine Praxissoftware zwei Präparate mit Zusatznutzen ausspuckt, eines mit einem Beleg für einen geringen Zusatznutzen, ein anderes mit einem Anhaltspunkt für einen beträchtlichen Zusatznutzen? Ist ein niedriger Zusatznutzen, der aber als belegt gilt, höher einzustufen als ein beträchtlicher Zusatznutzen, für den es aber nur einen Anhaltspunkt gibt? Auch ein Produkt mit dem Urteil „Zusatznutzen nicht quantifizierbar“ könnte in einem AIS vollkommen untergehen, befürchten Pharmaunternehmen. Denn wie will man in einem solchen System vermitteln, wenn die Nichtquantifizierbarkeit formale Gründe hat, weil es keine Einigkeit über die Beurteilung der Evidenz gibt? Hinter „Zusatznutzen nicht quantifizierbar“ stünde dann ein Methodenstreit und im Zweifel keine klare Aussage über den Wert eines Arzneimittels. Man ahnt schon, dass ein AIS, falsch aufgesetzt, auch dazu angebracht sein dürfte, die Entscheidungsfindung zu verkomplizieren.
Bei 70 Prozent der Beschlüsse, die auf „Kein Zusatznutzen“ lauten, werden formale Gründe angebracht. Doch kann ein AIS sicherstellen, dass „Kein Zusatznutzen“ auch richtig eingeschätzt wird? „Kein Zusatznutzen“ heißt: Der G-BA schätzt den Wert eines Arzneimittels nicht höher, aber eben auch nicht niedriger ein als die Vergleichstherapie. Ein solches Präparat kann also in der Versorgung – auch unter dem Aspekt von Therapiealternativen – eine wichtige Rolle spielen. Die Sorge der Hersteller ist aber, dass ein Präparat mit einem solchen Etikett als „unwirtschaftlich“ eingestuft wird – und deshalb beim Patienten nicht ankommt. Dann wäre die Frage, ob ein solches AIS nicht den übergeordneten Zielen des AMNOG hinterherläuft, das ja eine Versorgung mit innovativen Medikamenten ausdrücklich sicherstellen will.
Leitlinie contra AMNOG? Wie soll der Arzt entscheiden?
Hinzu kommt, dass sich ärztliche Therapieentscheidungen vielmehr aus anderen Quellen speisen sollten. Hier sind vor allem die Therapie-Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften zu nennen. Die sollen den Stand der medizinischen Wissenschaft darstellen – ausgerichtet auf die Unterstützung der individuellen Therapieentscheidungen des Arztes. Sie folgen damit aber einer völlig anderen Fragestellung, als die Nutzenbewertungsbeschlüsse des G-BA, die auf die zentrale Preisregulierung ausgerichtet sind. Wie aber soll der Arzt zwischen diesen Quellen abwägen? Was macht er, wenn die Leitlinien die Sachlage anders bewerten als es die AMNOG-Beschlussfassung abbildet? Sticht eine Leitlinie einen AMNOG-Beschluss oder ist es umgekehrt?
Und wie ist es mit der Aktualität von AMNOG-Beschlüssen? Diese Sorge treibt Fachgesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie (DGHO) um: „Die klinische Forschung zu einem neuen Präparat hört nicht mit der Festlegung eines Zusatznutzens durch den G-BA auf. Entscheidende Erkenntnisse über Langzeitwirkung, über Toxizität, […] etc. werden oft erst in den Jahren nach der Zulassung evident und publiziert“, heißt es in einem Positionspapier. Neue Daten werden jedoch in der Nutzenbewertung nur berücksichtigt, wenn z.B. der pharmazeutische Unternehmer dies beantragt. Sprich: Der einmal festgelegte Zusatznutzen kann über Jahre bestehen bleiben, unabhängig von einer veränderten Datenlage.
Es gibt niemanden, der im Gesundheitswesen die Implementierung eines AIS nicht begrüßt. Dies aber dürfte schon der einzige gemeinsame Nenner sein. Ein System zu implementieren, das die Ärzte wirklich bei ihrer Therapieentscheidung unterstützt, muss erst noch erfunden werden. Die Umsetzung dürfte ein hartes Stück Arbeit werden.