Herr Dr. Chlistalla, wie hat sich die Krebsforschung in den vergangenen Jahren verändert?
Dr. Andreas Chlistalla: Die Fortschritte in der Krebsforschung in den letzten Jahren waren rasant. Dies insbesondere, weil wir die Mechanismen von Krebserkrankungen auf der molekularen Ebene immer besser verstehen. Wir wissen heute: Krebs ist nicht gleich Krebs. Vielmehr unterscheiden wir zahlreiche Subtypen mit spezifischen molekularen Eigenschaften, die individuell behandelt werden können. Für die Forschung bedeutet dies: Sie wird immer spezifischer. Je individueller, je personalisierter die Therapien aber werden, desto wichtiger wird es, genau die Patienten zu finden, die von ihnen profitieren können. Heute geht es also nicht mehr „nur“ darum, ein Medikament zu entwickeln – wir brauchen gleichzeitig diagnostische Tests, um die Patienten zu identifizieren, bei denen das Medikament wirkt. Das erfordert eine ungemein enge Abstimmung zwischen Pharma und Diagnostik. Bei Roche werden rund zwei Drittel aller Substanzen, die sich in der fortgeschrittenen Entwicklung befinden, zusammen mit einem Begleitdiagnostikum entwickelt.
Wo liegen die aktuellen Herausforderungen in der Krebsforschung?
Chlistalla: So paradox es klingt: Eine der zentralen Herausforderungen ist der explosionsartige Anstieg an Informationen selbst. Jeden Tag werden in Forschung und Praxis Unmengen an Daten generiert. In diesen „Big Data“ steckt ein enormes Wissen. Unsere Aufgabe ist es, diese Daten zu standardisieren, zu interpretieren und optimal für Forschung und Therapie zu nutzen. Auch das Tempo des Fortschritts ist eine Herausforderung: Wir möchten erreichen, dass Patienten von den rasanten Entwicklungen in der Onkologie so schnell wie möglich profitieren können. Neue, flexiblere Studienmodelle können dazu ebenso beitragen wie die Etablierung früher messbarer Endpunkte. Im Sommer 2015 hat die europäische Zulassungsbehörde erstmals eine Antikörper-Therapie gegen Brustkrebs im Frühstadium auf Basis des Endpunkts der „pathologischen Komplettremission“ zugelassen. Das war ein wichtiges Signal: Denn dieser Wirksamkeits-Endpunkt zeigt, bei wie vielen Frauen die bereits vor der Operation verabreichte Therapie zu einer vollständigen Elimination der Krebszellen geführt hat. Er lässt sich bereits nach wenigen Wochen messen.
Haben sich die Forschungsschwerpunkte verschoben – mehr in Richtung Lebensqualität?
Chlistalla: Die Lebensqualität ist neben der Wirksamkeit und der Sicherheit zweifellos das entscheidende Kriterium. In der Regel sind die modernen, zielgerichteten Krebsmedikamente erheblich verträglicher als klassische Chemotherapien. In der Praxis werden sie aber meistens noch mit einer Chemotherapie kombiniert – zumindest initial. Grundsätzlich ist in der onkologischen Forschung jedoch der Versuch zu beobachten, die nebenwirkungsreicheren Chemotherapien vollständig zu ersetzen, etwa durch die Kombination verschiedener zielgerichteter Substanzen.
Kritiker sagen: Neue Onkologika kosten viel, bringen aber wenig. Wie reagieren Sie darauf?
Chlistalla: Aus wissenschaftlicher Sicht besteht hier kein Raum für Diskussionen. Heute lebt ein Mensch mit einer Krebsdiagnose etwa sechsmal länger als noch vor 40 Jahren. Die modernen Krebsmedikamente haben maßgeblich zu dieser verbesserten Prognose beigetragen. Schauen wir zwei Jahrzehnte zurück: Damals gab es im Grunde nur die unspezifisch wirkende Chemotherapie, die nach dem Gießkannenprinzip eingesetzt wurde. Heute sind personalisierte Therapien, die den Tumor zielgerichtet angreifen, bei vielen Krebserkrankungen wie dem schwarzem Hautkrebs, Brustkrebs oder Lungenkrebs fest etabliert. Die Prognose der Patienten hat sich dadurch zum Teil massiv verbessert. Und mit den Krebsimmuntherapien, die das körpereigene Immunsystem gegen den Krebs aktivieren, kündigt sich bereits eine ganz neue Ära an, die zu weiteren Fortschritten für Krebspatienten führen wird.
Binnen einer Generation werden wir die meisten Krebsarten wenn nicht heilen, so doch kontrollieren können. Wie schätzen Sie diese Aussage ein?
Chlistalla: Dank der Fortschritte in der Behandlung von Krebs lassen sich bereits heute viele Krebserkrankungen heilen – wenn sie früh genug erkannt werden. Ich denke hier beispielsweise an den HER2-positiven Brustkrebs: Früher hatten Frauen mit dieser besonders aggressiven Form von Brustkrebs eine sehr ungünstige Prognose. Dank moderner Antikörper, die speziell gegen diese Krebsform entwickelt wurden, werden heute viele Frauen, deren Erkrankung früh diagnostiziert wird, wieder gesund. Auch im fortgeschrittenen Stadium lässt sich die Erkrankung oft über Jahre kontrollieren – und dies bei guter Lebensqualität.
Gleichzeitig besteht bei anderen Krebserkrankungen wie Bauchspeicheldrüsenkrebs oder Hirntumoren, nach wie vor ein extrem hoher Bedarf an neuen, wirksamen Therapien. Das treibt uns weiter an: Wir haben schon viel erreicht, aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Und unsere Forschung bildet heute den Grundstein dafür, das Leben und die Lebensqualität von Menschen mit Krebs künftig weiter zu verbessern.