Immer mehr Menschen erkranken an Krebs. Aber trotz des Fortschritts durch bessere Medizintechnik und Medikamente hat sich der Anteil der Krebsausgaben  gemessen an den Gesamtausgaben für Gesundheit  kaum verändert. Foto: © iStock.com/Katarzyna Bialasiewicz Photographee.eu
Immer mehr Menschen erkranken an Krebs. Aber trotz des Fortschritts durch bessere Medizintechnik und Medikamente hat sich der Anteil der Krebsausgaben gemessen an den Gesamtausgaben für Gesundheit kaum verändert. Foto: © iStock.com/Katarzyna Bialasiewicz Photographee.eu

Medizinischer Nutzen prallt auf regulatorisches Korsett

Das Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AMVSG) wurde nun auch vom Bundesrat gebilligt und kann noch dieses Jahr in Kraft treten. Die Chance, das Nutzenbewertungsverfahren für neue Arzneimittel á la AMNOG nachzubessern, wurde verpasst. Dabei wird die Kritik aus medizinischen Fachgesellschaften immer lauter. Im jüngsten Fall geht es um ein Medikament gegen Lungenkrebs. Es bekam ein „Zusatznutzen nicht belegt.“ Die Fachgesellschaften hingegen empfehlen es in der Erstlinientherapie: Es ist die Neuauflage eines Dilemmas.

Das AMNOG gibt es seit 2011 – und seitdem sind allein 90 Verfahren für Krebsmedikamente abgeschlossen worden. „Von den Innovationen in der Krebstherapie profitieren Patienten mit sehr unterschiedlichen bösartigen Erkrankungen, von Leukämien bis zum Melanom“, schreibt die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie (DGHO) in einer Pressemitteilung.

Doch in jüngster Zeit häuft sich die Kritik aus dem Kreis der medizinischen Fachgesellschaften. Sie fürchten, dass das AMNOG-Verfahren oft ein zu starres Raster ist, um der medizinischen und klinischen Realität gerecht werden zu können. Das jüngste Beispiel: Das Lungenkrebsmedikament Crizotinib. Der Beschluss des letztendlich entscheidenden Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) lautet: „Zusatznutzen nicht belegt“. Die Fachgesellschaften hingegen – und das gilt national wie international – empfehlen das Mittel den betroffenen Patienten in der Erstlinientherapie. Erstlinientherapie bedeutet, dass dieser Wirkstoff zur Behandlung der Krankheit als am besten geeignet angesehen wird. Weiter kann man nicht auseinanderliegen.

Fachgesellschaft sagt Ja, AMNOG sagt: Kein Zusatznutzen belegt

Das Lungenkarzinom ist weltweit die häufigste zum Tode führende Tumorerkrankung. Die Überlebensraten der Patienten haben sich zwar seit den 1970-er Jahren verdoppelt, sind aber immer noch niedrig. Rund 80 Prozent der Patienten erkranken am nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom (NSCLC), das häufig erst in einem späten, inoperablen Zustand entdeckt wird. NSCLC-Patienten weisen verschiedene genetische Veränderungen auf. Eine dieser molekulargenetischen Subgruppen sind Patienten mit Mutationen ihres ROS1-Gens. Die tritt bei rund einem Prozent der NSCLC-Patienten auf – das sind ungefähr 300 bis 400 Neuerkrankungen im Jahr.

Hier kommt Crizotinib ins Spiel: Es führt bei 70 bis 80 Prozent der Patienten zu einem nachhaltigen Ansprechen, so die DGHO. Das Krebsmittel ist auch ein Beispiel für ein Dilemma des Nutzenbewertungsverfahrens. Denn die DGHO ist mit ihrer Einschätzung nicht allein. Folgt man der Einschätzung von Prof. Jürgen Wolf von der Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie in der Deutschen Krebsgesellschaft (AIO) hat das Mittel eine hohe Effektivität und ist der Chemotherapie auch hinsichtlich Verträglichkeit und Toxizität (Giftigkeit) weit überlegen. Nachzulesen ist das im Wortprotokoll der öffentlichen Anhörung im AMNOG-Verfahren.

Der Hintergrund: Ein Methodenstreit

Der Hintergrund für diesen Dissens ist ein altes Problem – und ein fast schon klassischer Zankapfel zwischen den Machern des AMNOG und der pharmazeutischen Industrie. Es geht um die Frage: Welche Studien muss ich machen, um eine möglichst verlässliche Aussage darüber zu bekommen, was ein Medikament kann und was nicht?

Als „Goldstandard“ gilt die randomisierte kontrollierte Studie (RCT – Randomized Controlled Trial). Kontrolliert heißt, dass es neben der Verum- auch eine Kontrollgruppe gibt, die ein Scheinmedikament bekommt. Randomisiert bedeutet, dass die Zuordnung der Probanden zufällig ist. RCTs sollten möglichst auch „doppelblind“ sein; soll heißen: Weder Patient noch Versuchsleiter wissen, wer in welcher Gruppe ist.

Eine solche Studie würde das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit (IQWiG) am liebsten auch im Beispiel Crizotinib sehen. „Da muss man einmal zwischen Wunsch und Wirklichkeit unterscheiden“, erklärte dazu Professor Martin Sebastian von der AIO während der Anhörung. Aus einer Studie mit rund 13.000 Patienten hätten gerade einmal 60 bis 70 Patienten dieser genetischen Subgruppe identifiziert werden können: „Ich glaube wirklich, dass wir in diesen extrem kleinen Indikationen keine randomisierten klinischen Studien machen können“, so Sebastian. Und sein Kollege Wolf sekundierte: Wenn man von der besten verfügbaren Evidenz ausgehe, sei das gar nicht so unbefriedigend. Er habe keinen Zweifel daran, „dass das ein Medikament ist, das eine hohe Effektivität hat. Wir können nur nicht quantifizieren, um wie viel besser als Chemotherapie es ist.“ Aber daran, dass es besser sei, bestehe kein Zweifel. Die DGHO würde das Mittel auch dann als Erstlinientherapie empfehlen, wenn es „nur“ gleich effektiv wäre, „weil die Alternative, die platinhaltige Chemotherapie, so viel schlechter verträglich ist.“

Für Prof. Carsten Bokemeyer – er ist Geschäftsführender Vorsitzender der DGHO – zeigt das Beispiel das ganze Dilemma des G-BA. Der sei „gefangen im Korsett der eigenen Regeln, die einen Zusatznutzen nur dann definieren können, wenn eine randomisierte Studie mit einem Kontrollkollektiv vorliegt.“ Die DGHO fordert eine neue Regelung für kleine, molekular definierte Patientengruppen, die zahlenmäßig den seltenen Erkrankungen entsprechen und bei denen randomisierte Studien realistisch nicht mehr durchführbar sind. Denn eine seltene Erkrankung ist diese Subgruppe des Lungenkrebses nicht, weil der Orphan-Drug-Status nur für ganze Indikationen vergeben wird und Lungenkrebs generell keine seltene Erkrankung ist.

Das allerdings hält Bokemeyer nicht mehr für vereinbar mit der Entwicklung in der personalisierten Krebstherapie, die auf der Basis von Biomarkern das Ansprechen auf eine gezielte Therapie vorhersagen könne. Bei Orphan Drugs gilt der Zusatznutzen durch die Zulassung als belegt.

Es ist der Streit um die theoretisch „beste Evidenz“ gegen die „beste verfügbare Evidenz“ – und damit ein Methodenstreit. Aber die Auswirkungen dürften alles andere als marginal sein: Wie soll ein Arzt seinem Patienten die Behandlung mit einem Medikament erläutern, zu dem seine Fachgesellschaft sagt: „Das ist das Beste, was wir zurzeit haben“ – während die offizielle Nutzenbewertung keinen Zusatznutzen sieht?

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