Im Pharma Fakten-Interview erklärt Dr. Franz Böhme  Leiter Medical Affairs Onkologie/Hämatologie bei Bayer Vital  wie Radioaktivität in der Therapie von Krankheiten zum Einsatz kommt. Foto: © Gorodenkoff Productions - iStock
Im Pharma Fakten-Interview erklärt Dr. Franz Böhme Leiter Medical Affairs Onkologie/Hämatologie bei Bayer Vital wie Radioaktivität in der Therapie von Krankheiten zum Einsatz kommt. Foto: © Gorodenkoff Productions - iStock

Wenn Patienten 200 Kilometer reisen müssen

Wieder hat die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) drei Medikamente gegen seltene Erkrankungen zur Zulassung empfohlen. Eines ist für die Therapie einer seltenen Krebsart bestimmt, ein weiteres kommt bei Hämophilie B zum Einsatz und letzteres behandelt eine chronische Entzündung der Blasenwand, die interstitielle Zystitis. Im Pharma Fakten Interview erklärt Martina Ochel, wie groß die Herausforderungen bei der Entwicklung von Orphan Drugs weiterhin sind. Als Geschäftsführerin von Sanofi Genzyme verantwortet sie u.a. den Bereich der Seltenen Erkrankungen.

Was unterscheidet die Entwicklung von Medikamenten gegen „normale“ Erkrankungen von der Entwicklung gegen seltene Erkrankungen?

Martina Ochel: Anders als vielfach behauptet unterliegen Medikamente gegen seltene Erkrankungen, die „Orphan Drugs”, den gleichen Kriterien hinsichtlich Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit wie alle anderen „normalen“ Arzneimittel. Orphan Drugs müssen neben diesen ohnehin hohen Ansprüchen vor der Zulassung aber noch weitere Hürden meistern. Meist fehlt es allerdings an Wissen über die Krankheit. Daraus ergibt sich im Hinblick auf die Durchführung von Studien die Schwierigkeit, die richtige Fragestellung und klinische Endpunkte festzulegen. Die Entwicklung eines Medikaments für die „Seltenen“ ist aufwendig und teuer.

Seltene Erkrankungen sind oft noch nicht vollständig erforscht. In vielen Fällen existiert daher noch kein oder nur ein geringes Verständnis für die Erkrankung.  Hinzu kommt, dass die „Seltenen“ oft durch eine sehr heterogene Symptomatik charakterisiert sind. Das macht es auch nahezu unmöglich, einen therapeutischen Ansatz zur Entwicklung eines pharmazeutischen oder biotechnologischen Medikaments auszumachen.

Zudem steht zur Beantwortung der Fragestellung nur eine geringe Anzahl an Patienten zur Verfügung, da nur wenige betroffen und davon viele noch nicht diagnostiziert sind. Auch findet man vergleichsweise wenige Experten. Das bedeutet: Es gibt nur wenige Studienzentren und pro Studienzentrum nur wenige Studienteilnehmer. Daher müssen in nahezu allen Fällen mehrere Zentren in Europa – manchmal sogar darüber hinaus – in eine Studie eingebunden werden, um statistisch aussagekräftige und verwertbare Ergebnisse erzielen zu können. Es gilt deshalb, eine Studie gegen eine seltene Erkrankung besonders smart zu planen, um trotz der wenigen Patienten, die zudem geographisch weit verteilt sind, eine hohe Aussagekraft zu gewährleisten.

Haben Sie ein Beispiel?

Ochel: In einem Fall einer seltenen Erkrankung, die auch Säuglinge und Kleinkinder betrifft, hatten wir vier Wirkstoffe parallel entwickelt und getestet. Ziel war es, aus den Ansätzen die vielversprechendste Therapie auszuwählen, mit der die Erkrankung nicht nur symptomatisch, sondern ursächlich behandelt werden kann. Schließlich konnten für einen der Wirkstoffe erste positive Wirksamkeits- und Verträglichkeitsdaten gezeigt und veröffentlicht werden – 150 Jahre nach Entdeckung der Erkrankung ein wichtiger Schritt. Schon bei Studienbeginn bestand die Herausforderung darin, genügend diagnostizierte und den Studienkriterien entsprechende Säuglinge innerhalb eines Zeitfensters von zwei Monaten zu finden. Hinzu kam ein hoher logistischer Aufwand, da es in Europa nur zwei Studienzentren gab. Weil die Kleinkinder nicht alleine verreisen konnten, mussten die Mütter und Geschwisterkinder, in einigen Fällen auch die gesamte Familie für die Dauer der Studie übersiedelt werden. Es galt hier nicht nur Unterkünfte, sondern auch Kindertagesstätten und Schulen für die Geschwister zu finden. Auch später nach Zulassung war die Logistik erstmal herausfordernd, denn zu der Zeit gab es noch kaum Experten oder Zentren für diese seltene Erkrankung in Deutschland und die Familien mussten für Untersuchungen teilweise 200 km und mehr fahren.

Woran liegt es, dass wir jetzt viel mehr Zulassungen von Orphan Drugs sehen?

Ochel: Ein Grund sind sicher die bahnbrechenden Erkenntnisse im Bereich der Grundlagen- und Genforschung der letzten Jahrzehnte. Sie haben ganz neue therapeutische Ansatzpunkte mit sich gebracht und somit auch die Arzneimittelentwicklung maßgeblich gefördert. Gerade im Bereich der Seltenen Erkrankungen, wo Patienten und Experten häufig geographisch weit verstreut sind, hat die breite Verfügbarkeit von Internet und E-Mail eine wichtige Rolle gespielt. Schließlich bietet das die Möglichkeit, sich schnell und ohne großen Aufwand zu informieren, auszutauschen, Erfahrungen zu teilen, sich zu vernetzen, und so Wissen über Seltene Erkrankungen zu sammeln und vermehren.

Ein wichtiger Schritt zur Förderung der Entwicklung von Orphan Drugs war zudem der Orphan Drug Act, der 1983 in den USA in Kraft trat. Die Europäische Union folgte siebzehn Jahre später, im Jahr 2000, mit der Verabschiedung der EU-Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden. Damit können Projekte zur Arzneimittelentwicklung gegen schwerwiegende Krankheiten, von denen maximal einer von 2.000 EU-Bürgern betroffen ist, unter bestimmten Bedingungen einen Orphan Drug-Status erhalten. Er beinhaltet z.B. eine punktuelle finanzielle Förderung sowie 10 Jahre Marktexklusivität und fördert so die Realisierung der teuren und aufwendigen Arzneimittelentwicklung. Die Kosten, die von der Entwicklung bis zur Marktreife entstehen, kann das aber nicht auffangen. Dennoch gibt es inzwischen rund 15 Neuzulassungen im Bereich Orphan Drugs pro Jahr.

Sind damit die Grundlagen geschaffen, um auch weiterhin Orphan Drugs zu entwickeln?

Ochel: Bislang sind ca. 8.000 Seltene Erkrankungen bekannt – demgegenüber stehen circa 130 zugelassene Arzneimittel. Damit gibt es trotz der steigenden Zahl an Neuzulassungen erst für gut ein Prozent der Seltenen Erkrankungen zugelassene Therapien. Das zeigt: Es müssen weitere stabile und innovationsfreundliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, um Menschen mit seltenen Erkrankungen helfen zu können. 

Auch Diagnose und Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen müssen verbessert werden und sich an den konkreten Bedürfnissen der Patienten ausrichten. Mit dem Nationalen Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) hat die Politik ein wichtiges Projekt ins Leben gerufen. Als Koordinierungs- und Kommunikationsgremium bündelt es das Engagement aller Beteiligten für eine optimierte Patientenversorgung. Insgesamt passiert so schon einiges, aber weitere Anstrengungen sind dringend nötig. Aus unserer über 30-jährigen Erfahrung wissen wir: Nur in Zusammenarbeit aller Beteiligten können wir das Leben der Betroffenen verbessern und Patienten neue Hoffnung geben.

Wer entscheidet eigentlich darüber, ob ein Medikament Orphan-Drug-Status erhält? Die Industrie? Die Behörden?

Ochel: Die Entscheidung über den Antrag auf Orphan Drug-Status trifft die Behörde. In Europa ist das das bei der europäischen Arzneimittelagentur EMA speziell eingesetzte Committee for Orphan Medicinal Products (COMP).

Ein Medikament erhält den Orphan-Status von der Europäischen Kommission nur dann, wenn die Krankheit selten ist und das Arzneimittel voraussichtlich einen signifikanten therapeutischen Nutzen für die betroffenen Patienten aufweist. Dies wird unmittelbar vor der Zulassung von der EMA durch das COMP erneut überprüft. Ist die Krankheit zu diesem Zeitpunkt nicht mehr selten oder besteht der Zusatznutzen für die betroffenen Patienten bei der Zulassung nicht mehr, so wird dem Arzneimittel noch vor der Zulassung der Orphan-Status aberkannt.

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