Der Bundesrat hat jetzt einem umstrittenen Gesetz zugestimmt  das die Sicherheit in der Arzneimittelversorgung verbessern soll. Foto: CC0 (Stencil)
Der Bundesrat hat jetzt einem umstrittenen Gesetz zugestimmt das die Sicherheit in der Arzneimittelversorgung verbessern soll. Foto: CC0 (Stencil)

Viel erreicht – und noch viel zu tun

„Alles geht, aber eben nur anders …“ – das Motto des diesjährigen Welt-Multiple-Sklerose-Tages am 31. Mai zeigt: Die Erkrankung ist inzwischen relativ gut behandelbar. Heilbar ist sie allerdings nicht. „Da liegt noch sehr viel Arbeit vor uns“, berichtet Prof. Dr. med. Ziemssen, Leiter des MS-Zentrums in Dresden.

Multiple Sklerose (MS) – an dieser Nervenerkrankung leiden hierzulande laut der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) über 200.000 Menschen. Bei ihnen greift das Immunsystem die Umhüllung der Nervenzellen an – bis es die Zellen selbst zerstört. Die Symptome äußern sich bei jedem Patienten unterschiedlich und erstrecken sich von Seh- und Sprechstörungen, über Taubheitsgefühle bis hin zu Lähmungserscheinungen.

Vor knapp 30 Jahren blieb dem Arzt bei der Diagnose „Multiple Sklerose“ nichts anderes übrig, als die Beschwerden – insbesondere nach einem Schub – zu lindern. Langfristige Therapien, die den Fortschritt der Erkrankung hemmen, gab es damals nicht. „Zu meiner Assistenzzeit konnten wir MS-Patienten außer Cortison nichts anbieten. Es war sehr frustrierend zu wissen, dass die Patienten unweigerlich auf eine schwere Behinderung zugehen“, bestätigt Prof. Dr. Andreas Schmitt, Medical Director von Biogen. „Dann kamen in den 90er Jahren die ersten Interferone auf den Markt und haben für einige Patienten viel bewirken können. Heute steht uns eine Vielzahl an verlaufsmodifizierenden Therapien mit diversen Wirkansätzen zur Verfügung.“ Die MS-Erkrankung muss daher nicht mehr zwangsläufig bleibende Behinderungen nach sich ziehen: „Gut eingestellt ist das in vielen Fällen zu verhindern und die meisten Patienten können ein nahezu normales Leben führen“, so Schmitt.

Das gilt jedoch nicht für alle Verlaufsformen der MS, wie Dr. med. Vera Zingler, Fachärztin für Neurologie bei Roche, ergänzt: „Für die vergleichsweise häufig auftretende Form der schubförmig remittierenden MS (RRMS) hat es in der Tat im Laufe der letzten Jahre Fortschritte gegeben. Bei RRMS können wir mittlerweile das Fortschreiten der Erkrankung in vielen Fällen deutlich verlangsamen oder sogar (zeitweise) aufhalten. Anders sieht es jedoch bei der primär progredienten MS – kurz PPMS – aus: Für Menschen mit dieser seltenen und schwerwiegenden Krankheitsform gibt es bis heute kein zugelassenes Medikament in Deutschland.“ Nicht nur in diesem Gebiet bleibt viel zu tun. Das Ziel der Forschung sei nach wie vor die Heilung der MS, so Schmitt: „Hier gibt es interessante Ansätze zur Remyelinisierung der bei MS betroffenen Nervenfasern.“ Geschädigte Nervenzellen könnten so wieder repariert werden. „Es bleibt abzuwarten, wie es hier weitergeht.“

Bis die Heilung der MS möglich wird, ist es aber wohl noch ein langer Weg, meint Prof. Dr. med. Ziemssen. „Momentan wirken alle verfügbaren Therapeutika im Bereich des Immunsystems. Sie hemmen mehr oder weniger die Einwanderung von Immunzellen im Gehirn. Bislang gibt es keine Therapie, die direkt an der Wurzel ansetzt und den grundlegenden Prozess der Erkrankung im Gehirn stoppt.“ Woran das liegt? Der Prozess ist nicht gut im Tiermodell zu simulieren. „Wenn man kein Modell hat, an dem man genau sieht, was im Gehirn passiert, kann man nur schlecht neue Behandlungsmöglichkeiten entwickeln. “

Auf dem Weg zu einer personalisierten Medizin

Die heutige MS-Therapie zielt darauf ab, eine „Freiheit von Krankheitsaktivität“ zu erreichen. Sie ist definiert als Freiheit von klinischer und kernspintomografisch messbarer Krankheitsaktivität. Das heißt, im Beobachtungszeitraum erleidet der Patient keine Schübe mehr, der Grad der Erkrankung bleibt stabil. Um diesen Zustand erreichen zu können, ist neben einem möglichst frühen Behandlungsbeginn die Wahl einer möglichst wirkstarken Therapie essentiell. „Oft wird so getan, als ob jeder MS-Patient eine identische Erkrankung hat. Das ist aber eine falsche Annahme“, so Ziemssen. Für jeden Patienten muss daher ein Medikament „ein zweites Mal geboren“ werden, wie er es beschreibt. „Das erste Mal wird es für die Zulassungsstudien untersucht. Da hat man gesehen, dass es in einer großen Masse wirksam und sicher ist.“ Bei der zweiten „Geburt“ gehe es nun darum, auszuloten, für welchen individuellen Fall das Medikament am geeignetsten ist. „Das ist ein Prozess, der natürlich viel umfangreicher, aber wichtig ist, um der Vision einer personalisierten Medizin nahezukommen“, erklärt der Leiter des MS-Zentrums in Dresden. Gerade bei der MS mit ihren besonders vielfältigen Erscheinungsformen sind daher Therapieoptionen unabdingbar.

In diesem Sinne sieht Ziemssen die Umsetzung der Nutzenbewertung laut Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) kritisch: Sie greife viel zu früh. „Natürlich muss es eine Form der Preisfindung geben, aber es kann nicht sein, dass Innovation in der Neurologie zu einem relativ frühen Zeitpunkt abgewürgt wird, ohne zu wissen, wie der Mehrwert des neuen Medikamentes in der klinischen Praxis aussieht.“ Er kritisiert, dass nur Phase-III-Studiendaten für die Nutzenbewertung verwendet werden. In seinen Augen kann eine sinnvolle Bewertung eines Medikamentes nur aufgrund von Daten in der Praxis resultieren. Sein Vorschlag: Über einen Zeitraum von beispielsweise fünf Jahren Daten aus der klinischen Praxis erheben – und erst auf dieser Grundlage das Medikament bewerten. In anderen Ländern sei das der Fall. So wie das AMNOG momentan funktioniere, bestehe „die Gefahr, dass es verschiedene Medikamente trotz Zulassung nicht zur Verfügbarkeit in der klinischen Praxis schaffen“, resümiert der MS-Experte.

Weiterführende Links:

https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/woran-wir-forschen/dauerbehandlung-multiple-sklerose

https://www.dmsg.de/multiple-sklerose-infos/was-ist-ms/

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