Der BPI hat die AMNOG-Daten 2019 veröffentlicht. Foto: © iStock.com/utah778
Der BPI hat die AMNOG-Daten 2019 veröffentlicht. Foto: © iStock.com/utah778

Der Arzneimittel-TÜV muss zum TÜV

Die frühe Nutzenbewertung für neue Arzneimittel sollte dringend überarbeitet werden: Der Arzneimittel-TÜV muss auf den Prüfstand. Das verlangen Wissenschaftler aus Ökonomie und Medizin. Sie fordern eine stärkere Patientenorientierung und sehen das AMNOG-System in einem Dilemma zwischen der alltäglichen Versorgung kranker Menschen mit innovativen Medikamenten und dem Kostenfokus der frühen Nutzenbewertung.

Die frühe Nutzenbewertung vergleicht Prof. Axel Mühlbacher, Gesundheitsökonom an der Hochschule Neubrandenburg, mit einem Zehnkampf. In die Bewertung eines Arzneimittels fließen verschiedene Aspekte ein – z.B. Lebenserwartung, Nebenwirkung oder Applikation. Diese Daten werden in klinischen Studien aggregiert. „Das Messen solcher Daten in notwendig – extrem notwendig“, so Mühlbacher auf einer Veranstaltung in Berlin (Bayer Vital-Pressegespräch, 12.06.2017). „Aber es ist nicht hinreichend, weil nicht klar ist, wie die verschiedenen Faktoren zueinander gewichtet werden.“ Bewertet die beurteilende Behörde nun den Zugewinn von Lebenszeit höher – oder eine eventuelle Zunahme unerwünschter Nebenwirkungen?

Soll heißen: Der Arzneimittel-TÜV AMNOG gibt zwar ein Urteil über den Wert eines Arzneimittels ab – aber selbst Experten wissen nicht, wie er welche Kriterien gegeneinander abgewogen hat. Soll heißen: Der Entscheidungsfindungsprozess ist intransparent.

Was nebensächlich klingt, ist in der medizinischen Wirklichkeit ein großes Problem. Der Arzt will seinem Patienten ein Arzneimittel verschreiben – etwa, weil die zuständige Fachgesellschaft es in ihre Leitlinien aufgenommen hat. Andererseits ist dasselbe Medikament mit einem „Zusatznutzen nicht belegt“ aus dem AMNOG-Verfahren gekommen. Aber so richtig weiß der Arzt nicht, warum: Er kann nicht nachvollziehen, welche Kriterien den Arzneimittelprüfern im Falle „seines“ Medikaments wichtig waren – und welche weniger wichtig.

Mühlbacher: Ohne Patientenpräferenzen kein Patientennutzen

Mühlbacher beklagt, dass regulatorische Entscheidungen über die optimale Therapie von Patienten derzeit überwiegend von Experten beurteilt werden. Dass dies nicht zwangsläufig mit der Sicht des Patienten deckungsgleich sein muss, liegt auf der Hand. Der Gesundheitsökonom fordert deshalb eine stärkere Einbindung der Patienten durch die Durchführung systematisierter Patienten-Präferenzstudien. Ohne die Präferenzen der Patientenpopulationen zu kennen, sei es unmöglich, den Patientennutzen des Arzneimittels zu bestimmen.

Dies haben auch die Regulierungsbehörden anderswo schon erkannt – und reagiert: So hat die US-Zulassungsbehörde FDA ein Pilotprojekt aufgesetzt, mit dem systematisch erfasste Patientenpräferenzen in die jeweiligen Entscheidungsprozesse integriert werden sollen. Mühlbacher stellt fest: „Die Annahme, dass einige wenige Patientenvertreter die Vielfalt einer ganzen Patientenpopulation angemessen vertreten können, weicht zunehmend einer realistischeren Sichtweise, die die Heterogenität der Erfahrungen und Werte in einer Patientenpopulation anerkennt.“ Und mit Blick auf Deutschland sagt er: „Die Nutzenbewertung des AMNOG soll neben der Wirtschaftlichkeit des Gesundheitssystems einen fairen Wettbewerb und eine stärkere Orientierung am Wohl des Patienten garantieren. Verbände, Fachgesellschaften und Wissenschaft sehen diese Ziele nicht erreicht und fordern eine Nachbesserung.“

Bruns: Mehr Daten im Versorgungsalltag generieren

Auch Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft, lässt durchblicken, dass ihm beim AMNOG-Verfahren zu sehr die Kostenperspektive im Vordergrund steht. Das muss aber keineswegs mit den Interessen von Behandlern und Patienten übereinstimmen, stellt der Mediziner fest.

In der Diskussion über die Bewertung des Zusatznutzens neuer Medikamente im Vergleich mit bestehenden Therapien prallen die Sichtweisen der Arzneimittelentwickler, der Selbstverwaltung und der Kliniker aufeinander – bei  der Frage nach der geeigneten Vergleichstherapie (ZVT) ebenso wie bei den klinischen Endpunkten, die es zu berücksichtigen gilt. „Wie damit im Einzelnen umgegangen werden soll, dazu gibt es immer noch keine allgemein anerkannte, für alle zufriedenstellende Einigung“, so Bruns.

Im Rahmen des seit 2011 in Deutschland geltenden Systems der frühen Nutzenbewertung gibt es immer wieder Diskussionen darüber, welche Vergleichstherapie die angemessene ist und welche klinische Endpunkte überhaupt in der Bewertung von Medikamenten berücksichtigt werden sollen. Seit Jahren umstritten: Der klinische Endpunkt „progressionsfreies Überleben“ (progression-free survival; kurz: PFS).  Als progressionsfreies Überleben gilt die Zeit zwischen dem Start einer klinischen Studie und dem Beginn des Fortschreitens der Erkrankung.

Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) bewertet die Aussagekraft des PFS kritisch. Der Onkologe Bruns sieht das anders: „Liegen bei einem Medikament aus der Zulassung Hinweise darauf vor, dass es das progressionsfreie Überleben verbessert, dann ist das ein Grund, seinen Einsatz in Erwägung zu ziehen.“ Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um zu erkennen, dass die Mehrheit der betroffenen Patienten das wohl ähnlich sehen würde.

Für „unrealistisch“ hält Bruns die Erwartung, dass bereits unmittelbar nach der Zulassung das gesamte Wissen um einen erfolgreichen Einsatz eines Medikamentes vorliegt. Man „überfordert damit schlicht die Evidenz, die zum Zeitpunkt der Zulassung vorliegt – wenngleich es bisweilen scheint, als sei genau das aus Kostensicht gewollt.“ Zum Zeitpunkt der Zulassung eines neuen Krebsmedikaments lasse sich bestenfalls das Potenzial abschätzen, erklärt Bruns. Er fordert deshalb einen strukturierten Prozess der Wissensgenerierung – etwa durch so genannte translationale Tumorboards, in denen sich die an der Behandlung beteiligten Leistungserbringer besser vernetzen sollen. Bruns möchte so sicherstellen, dass das nach Zulassung sich mehrende Wissen über eine neue Therapie kanalisiert und systematisch ausgewertet wird – damit das Gelernte schneller beim Patienten ankommt.

AMNOG: Struktureller Reformbedarf

Im siebten Jahr seines Bestehens zeigt das System der frühen Nutzenbewertung á la AMNOG strukturellen Reformbedarf. Experten und Wissenschaftler, aber auch die forschende Pharmaindustrie sehen das politische Ziel der Preisregulierung zunehmend auf Kollisionskurs mit den Interessen von Behandlern und Patienten. Das fängt schon bei der Wahrnehmung der Bewertungen an: Ein „Zusatznutzen nicht belegt“ heißt eben nicht: kein Nutzen. Ein AMNOG-Urteil ist eine Momentaufnahme auf der Basis formalisierter Kriterien, über die nicht einmal Konsens herrscht.

Dass AMNOG-Entscheidungen eben auch „Werturteile“ sind, lässt sich schon an einer einfachen, gut belegten Tatsache ablesen: Sogar die beiden am Bewertungsprozess beteiligten Organe, der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) und das IQWiG, kommen nicht selten zu unterschiedlichen Bewertungen – obwohl sie dabei auf dieselben klinischen Daten zurückgreifen.

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