228 abgeschlossene Verfahren der Frühen Nutzenbewertung gehen seit 2011 auf das Konto des AMNOG. In diesen 228 Verfahren wurden neue Medikamente nach ihrem Innovationspotenzial und Mehrwert untersucht, um auf dieser Basis einen Erstattungsbetrag zu verhandeln. Das Prinzip lautet: „Money for Value“.
Was gut klingt, läuft aber immer noch unrund. Denn, so schreiben die Autoren in der Analyse, das AMNOG hat „ökonomisch gesehen nach wie vor institutionelle Konstruktionsmängel“ – vor allem „hinsichtlich seiner praktischen Handhabung“. Demnach wurde fast die Hälfte (43 %) aller Nutzenbewertungs-Verfahren mit „kein Zusatznutzen“ abgeschlossen. Zusätzlich zur Bewertung der Anwendungsgebiete bricht der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Indikationen auf Patientengruppen herunter. Hier wurde drei von fünf solcher Subpopulationen „kein Zusatznutzen“ zugesprochen (61 %). Insgesamt sind 76 Prozent aller Patienten von den negativen Urteilen betroffen.
Pharma-Kritiker sehen darin die Bestätigung, dass viele neue Medikamente zwar wirksam, aber eben nicht besser sind als die, die den Patienten bereits zur Verfügung stehen. Doch das ist ein Trugschluss. Denn meist fällt das Urteil „kein Zusatznutzen“ nicht, weil Daten darauf hinweisen. Es fällt, weil es keine Daten gibt. Oder aber, weil die Daten von den AMNOG-Entscheidern nicht akzeptiert werden.
Ambivalenz der Kategorie „kein Zusatznutzen“
Das Problem scheint also ein methodisches zu sein. Ein Beispiel: Aus medizinischer Sicht ist es durchaus sinnvoll, Patienten in Subpopulationen zu unterteilen. Denn eine Erkrankung kann in verschiedenen Formen auftreten – und somit können die Patienten in den jeweiligen Subpopulationen unterschiedlich auf ein Arzneimittel reagieren. Problematisch wird es, wenn der G-BA Daten zu diesen Subpopulationen einfordert, die in den vorgelegten Studien des Pharmaunternehmens nicht ausgewiesen sind bzw. ausgewiesen sein können. Das Ergebnis (s. Grafik): Der G-BA ist nur in 34 von 296 (11,5 %) Fällen aufgrund von konkreten Studiendaten zu dem Urteil „kein Zusatznutzen“ gelangt („ZN nicht belegt“). Bei fast 90 Prozent erging die Bewertung aus formalen Gründen, weil die prüfende Institution die vorgelegten Studiendaten nicht akzeptiert – und deshalb auch gar nicht erst geprüft hat.
„Deshalb ist zu beachten, dass `kein Zusatznutzen´ nicht heißt, dass einige der so gekennzeichneten Wirkstoffe tatsächlich nicht doch einen Zusatznutzen haben, der auch testiert worden wäre, wenn sie der G-BA inhaltlich bewertet hätte“, erklären die Studienautoren Cassel und Ulrich.
Die Versorgungseffekte des AMNOG
Doch die Frühe Nutzenbewertung – als Basis der Preisverhandlung – hat große Auswirkungen auf die Versorgung in Deutschland. Denn das AMNOG sorgt längst für ein Preisgefälle: Nahezu 90 Prozent der Erstattungsbeträge in Deutschland liegen unterhalb des durchschnittlichen Preises eines Präparates in den europäischen Vergleichsländern. In knapp 60 Prozent der Fälle ist der deutsche Preis sogar der niedrigste. „Eine unmittelbare Folge davon ist, dass es bereits verstärkt zu Parallelexporten aus Deutschland in Ländern mit höheren Preisen kommt.“ In Zukunft könnte dieser Warenabfluss hierzulande zu Versorgungsengpässen führen, befürchten die beiden Gesundheitsökonomen.
Versorgungslücken entstehen aber auch, wenn sich Hersteller aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen sehen, ihr Präparat zurückzunehmen. Die „AMNOG-Daten 2017“ zeigen, dass ein Fünftel (27 Produkte) aller Präparate, die in eine Preisverhandlung gingen (137 Produkte), nicht mehr auf dem deutschen Markt zur Verfügung stehen. Bis auf vier Fälle geschah dies auf Basis eines „kein Zusatznutzen“-Urteils, das aus rein formalen Gründen (nicht ausreichende Studiendaten etc.) getroffen wurde. „Ziel des AMNOG war es von Anfang an, eine qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung sicherzustellen. Doch unsere Daten zeigen: Die Gefahr wächst, dass Medikamente mit hohem Nutzen für die Patienten nicht in der Versorgung ankommen“, bewertet Norbert Gerbsch, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des BPI, die Zahlen. „Es heißt immer: Das AMNOG ist ein ´lernendes` System. Es wird deshalb Zeit, das Gelernte umzusetzen und das System zu reformieren“.
Das G-BA Urteil: nicht die letzte „Wahrheit“
Auch die Studienautoren Cassel und Ulrich fordern, die Bewertungsschlüsse des G-BA nicht als „letzte Wahrheiten“ hinzunehmen. Denn: Trotz Bewertung derselben Daten und auf Basis derselben gesetzlichen Grundlagen kann man zu unterschiedlichen Urteilen bzgl. eines Medikaments kommen. Dies zeige die unterschiedliche Bewertungspraxis des G-BA und des von ihm beauftragten Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Laut der „AMNOG-Daten 2017“ wichen die beiden Behörden in fast einem Drittel der Verfahren in ihrer Bewertung voneinander ab.
Ein ähnliches Bild zeichnete auch eine Studie aus 2016, die die Nutzenbewertung einem internationalen Vergleich unterzog: Fast in jedem zweiten Fall kommt der deutsche G-BA demnach zu einem anderen Urteil als sein englisches Gegenbild „NICE“ (The National Institute for Health and Care Excellence). „Sinnvoll wäre daher auch eine europäische Harmonisierung der auf den patientenrelevanten Nutzen bezogenen Kriterien und der Anforderungen für die Nutzenbewertungsverfahren“, so Cassel und Ulrich.