Natürlich: Frauen mit metastasiertem Brustkrebs wünschen sich in erster Linie, so lange wie möglich zu leben. Doch schon das Hinauszögern des Krankheitsprogresses ist für sie von enormer Bedeutung, erzählt Eva Schumacher-Wulf. Sie weiß, wovon sie spricht: Mit 34 Jahren – als Mutter von zwei kleinen Kindern – wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert. Heute ist sie Chefredakteurin des „Mamma Mia!“-Brustkrebsmagazins. Als solche hat sie nun eine Online-Petition initiiert – mit der Forderung an die Politik, dass der Studienendpunkt „progressionsfreies Überleben“ (progression free survival, PFS) gemäß internationaler Standards auch in Deutschland als patientenrelevant anerkannt wird. Bis zum 25. November kann noch unterschrieben werden.
In Ihrer Online-Petition fordern Sie „die Wahrung von Patienteninteressen bei der Beurteilung von Krebsstudien durch den G-BA“. Warum?
Eva Schumacher-Wulf: Es geht grundsätzlich um die Frage, was in der Beurteilung von neuen Medikamenten als „patientenrelevanter Nutzen“ anzusehen ist. Hier unterscheidet sich die Meinung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) in einigen Punkten erheblich von der Sichtweise der Patienten, aber auch der Zulassungsbehörden, Fachgesellschaften und der Gesundheitsbehörden unserer Nachbarländer. So wird z.B. der Endpunkt „progressionsfreies Leben“ (PFS) von Zulassungsbehörden als patientenrelevant angesehen und Fachgesellschaften sehen es als erklärtes Therapieziel, das Fortschreiten der Krankheit so lange wie möglich aufzuhalten. Der G-BA jedoch sieht darin meist keinen patientenrelevanten Nutzen. Wir fordern daher, dass der Studienendpunkt PFS als Therapieziel gemäß internationaler Standards auch in Deutschland als patientenrelevant anerkannt wird.
Was bedeutet „progressionsfreies Überleben“ (PFS) und wie wird es gemessen?
Schumacher-Wulf: PFS zeigt im metastasierten Krankheitsstadium die Zeitspanne von Therapiebeginn bis zum Fortschreiten der Krankheit an. Der Progress wird in Studien meist durch bildgebende oder laborchemische Diagnostik gemessen. Diesen Punkt betreffend hatte ich eine lange Diskussion mit einem Vertreter des G-BA. Es ging um die Frage, ob das Wissen um einen nicht-symptomatischen Progress einen Einfluss auf die Lebensqualität der Patienten hat. Er beharrte auf der Meinung, das Fortschreiten der Erkrankung würde die Lebensqualität erst dann negativ beeinflussen, wenn Symptome wie Schmerzen auftreten. Wer mit Patienten zu tun hat, weiß aber, dass alleine die Nachricht, dass der Tumor wieder aktiv und progredient ist, einen enormen Einfluss auf die Lebensqualität hat. Patienten brauchen einige Zeit, um sich von diesem Schock zu erholen. Nicht selten können sie aufgrund der akuten Belastungsstörung ihren Alltagsaktivitäten nicht in gewohnter Weise nachkommen. In der Regel folgt ein Therapiewechsel, der mit neuen und eventuell stärkeren Nebenwirkungen einhergehen kann.
Was sind die Ziele einer Krebsbehandlung aus Patientensicht?
Schumacher-Wulf: Fragt man metastasierte Krebspatienten, was sie sich wünschen, sagen sie zunächst, dass sie so lange wie möglich leben möchten. Sie sagen aber auch, dass sie ihr gewohntes Leben so lange wie möglich bei guter Lebensqualität weiterführen möchten, d.h. ohne durch Schmerzen oder andere Symptome beeinträchtigt zu sein. Viele Patienten, insbesondere Mütter kleinerer Kinder, würden jedoch jede Nebenwirkung in Kauf nehmen, um das Tumorwachstum zu stoppen. Unter dem Strich ist das Hinauszögern des Progresses etwas, was sich alle Patienten wünschen. Wie viele Nebenwirkungen sie dafür bereit sind zu ertragen, ist eine sehr individuelle Entscheidung.
Sie sagen: Die Behörden in Deutschland bewerten die Verlängerung der progressionsfreien Zeit als patientenrelevanten Nutzen deutlich restriktiver als Behörden im Ausland. Wie reagieren die Patienten darauf?
Schumacher-Wulf: Das sehen wir aktuell an der Nutzenbewertung von Palbociclib: Patienten verfolgen sehr aufmerksam, was sich am Markt tut. So erfahren sie, dass ein neues Medikament für eine bestimmte Brustkrebsart zugelassen wurde. Sie lesen dann in den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie (AGO), dass dieses Medikament den höchsten Empfehlungsgrad erhalten hat. Der Arzt erklärt ihnen, dass es zu einer zusätzlichen progressionsfreien Zeit von durchschnittlich zehn Monaten führen kann. Daher lassen sich viele Patientinnen damit behandeln. Und plötzlich heißt es seitens des G-BA: „Dieses Medikament hat keinen patientenrelevanten Zusatznutzen“. Es sind nicht nur Fassungslosigkeit und Unsicherheit, die sich breitmachen. Patienten fühlen sich mit ihren Bedürfnissen nicht wahr- bzw. ernstgenommen. In vorauseilendem Gehorsam gibt es schon erste Ärzte, die das Medikament nicht mehr verordnen. So melden sich Palbociclib-Patientinnen bei uns, die ohne Rezept von ihrem Arzt nach Hause gehen mussten. Ich denke, wir brauchen keine wissenschaftlichen Erhebungen, um uns vorzustellen, wie es diesen Frauen nach einem solchen Erlebnis geht.
Was muss sich Ihrer Meinung nach ändern, damit die Nutzenbewertung von Arzneimitteln patientenfokussierter wird?
Schumacher-Wulf: Die Präferenzen von Patienten müssen systematisch erfasst werden. Daher fordern wir in unserer Online-Petition nicht nur ein Stimmrecht für Patientenvertreter im G-BA, sondern regen zudem die Durchführung einer repräsentativen Befragungsstudie von betroffenen Patienten zur Patientenrelevanz von PFS und weiteren Studienendpunkten an – und zwar unter Einbeziehung unserer Expertise von Anfang an. Die Ergebnisse einer solchen Studie können helfen, die Nutzenbewertung neu auszurichten. Außerdem ist es unerlässlich, dass sich Zulassungsbehörden, Fachgesellschaften und G-BA zusammensetzen, um über einheitliche Bewertungskriterien zu reden. Der G-BA betont immer wieder, es ginge bei der frühen Nutzenbewertung nicht um Kosten. Wenn das stimmt, dürfte eine Annäherung in der Bewertung nicht allzu schwierig zu sein, schließlich ist von ein und denselben Patienten die Rede.