Fünf Kernforderungen, die aus Sicht des BPI ins Pflichtenheft der kommenden Regierung gehören: Der Pharmaverband will die Versorgung für alle Menschen verbessern, die Qualität des Pharmastandortes sichern und die Liefersicherheit von Arzneimitteln erhalten, „Made in Germany“ fördern, Arbeitsplätze erhalten sowie die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorantreiben. Mit Sorge sieht der BPI die Tendenz, aus Kostengründen Defizite in der Arzneimittelversorgung in Kauf zu nehmen. Das, so Zentgraf, sei nicht nur einfallslos, sondern falsch.
Herr Zentgraf, wir haben eines der besten Gesundheitssysteme weltweit. Was stört Sie?
Zentgraf: Qualität von und rascher Zugang zu ärztlicher Versorgung, sowohl ambulant als auch stationär, sind in der Tat vorbildlich im deutschen Gesundheitssystem. Auch der meist unmittelbare Markteintritt von Arzneimittelinnovationen nach Zulassung hebt das deutsche Gesundheitswesen positiv von zahlreichen Nachbarländern ab. Noch. Denn der Nutzen dieser Vorteile für den Patienten wird zunehmend eingeschränkt durch Verordnungsrestriktionen oder fehlende Verfügbarkeit, gerade bei Innovationen und durch Abnahme der Angebotsvielfalt im Bereich der generischen Basistherapien. Das kann man nicht sehenden Auges einfach passieren lassen.
Sehen Sie schon konkrete Beispiele, wo sich die Versorgung verschlechtert hat?
Zentgraf: Fakt ist, dass es beinahe regelhaft Marktaustritte als Folge der nach früher Zusatznutzenbewertung gescheiterten Preisverhandlungen bei chronischen Indikationen wie Epilepsie und Diabetes, gibt. Hier stehen deutschen Patienten, die mit der generischen Basistherapie aus medizinischen Gründen nicht auskommen, keine neuen Alternativen zur Verfügung. Im Bereich der patentfreien Produkte kommt es gehäuft zu Lieferschwierigkeiten bis hin zu Versorgungsengpässen, insbesondere bei Antibiotika und Onkologika. Sie resultieren aus der tragischen Trias von Rabattverträgen, Festbeträgen und abnehmender Zahl von Anbietern.
Werden Innovationen also nicht ausreichend gewürdigt?
Zentgraf: In offiziellen Statements, wie beispielsweise auch im Abschlussbericht zum Pharmadialog, findet man immer wieder das klare Bekenntnis zu Innovation im Sinne neuer, aber auch verbesserter, weiterentwickelter bewährter Arzneimittel. Diese Würdigung ist jedoch ein reines Lippenbekenntnis. Die Zukunft sieht nämlich so aus: Ein zu etablierendes Arzneimittelinformationssystem wird – wenn es nach dem Willen der GKV geht – zur Verordnungseinschränkung bei Arzneimitteln ohne oder mit gemischtem Nutzen in der frühen Nutzenbewertung führen. Damit wird die zwischen Arzt und Patient individuell entschiedene bestmögliche Therapie ausgeschlossen. Und schon jetzt finden Innovationen durch verbesserte Darreichungsformen kaum noch statt, da das erweiterte Preismoratorium, Festbeträge und Rabattverträge ihnen jegliche wirtschaftliche Grundlage entzieht. Ganz abgesehen davon, dass manch ein Politiker eine Innovation wie Tablette statt Spritze für „ein Luxusproblem“ der Patienten hält. Das empfinde ich als diskreditierend. Wir müssen weg von der einseitigen Kostenbetrachtung, weg von der “Geiz-ist-geil-Mentalität”. Und die Politik muss moderate Steigerungen bei den Arzneimittelausgaben endlich als das begreifen, was sie sind; nämlich eine Investition in die Gesundheitsversorgung.
Das AMNOG – die frühe Nutzenbewertung neuer Arzneimittel – wird gerne als „lernendes System“ bezeichnet. Und in der Tat gab es schon einige Reformen – in der Politik war schon die Rede vom AMNOG 2.0. Wie bewerten Sie das? Lernt das AMNOG das Richtige?
Zentgraf: Das AMNOG lebt nach der heuristischen Methode „Trial and Error“. Und in der Tat hat man Irrtümer in dem Gesetz erkannt und im unlängst verabschiedeten Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz versucht zu beheben. Das Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz AMVSG als eines dieser Korrekturversuche sieht eine flexiblere Berücksichtigung des Referenzpreises des Vergleichsproduktes sowie explizit die Ermöglichung von Preismengenvereinbarungen zwischen Kassen und pharmazeutischen Unternehmern bei Arzneimitteln ohne frühen Zusatznutzen vor. Dadurch soll es möglich werden, einen im europäischen Umfeld auskömmlichen und gleichzeitig die Kasse nicht überfordernden Preis zu vereinbaren und die bisher fast regelhaften Marktaustritte bei Indikationen wie etwa Epilepsie und Diabetes zu verhindern. Gleichzeitig ist auch die Forderung und Förderung der verbesserten Information der Ärzte zu Arzneimitteln zu begrüßen. Die hierzu vorgesehene Verordnung des Bundesministeriums für Gesundheit wird am Ende darüber entscheiden, ob das geplante Arzneimittelinformationssystem zum Wohle des Patienten zum gezielteren Einsatz von Innovationen führt, indem neben den Ergebnissen der frühen Nutzenbewertung auch weitere relevante Informationen, wie beispielsweise Leitlinien, eingebunden werden.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Mischpreisdiskussion und den Forderungen des GKV-Spitzenverbandes befürchte ich jedoch ein knappes Arzneimittelinformationssystem mit Verordnungseinschränkungen. Und wenn das der Fall ist, ist eine Methode, die bewusst auch die Möglichkeit von Fehlschlägen in Kauf nimmt, nicht die richtige.
Das AMNOG ist eine Fachdiskussion – in der Öffentlichkeit findet die Debatte nicht statt. Warum sollte diese Diskussion die Bürger Ihrer Meinung nach dennoch interessieren?
Zentgraf: Das AMNOG und seine Folgen gehen jeden Bürger etwas an. Weil es sich nämlich zusehends von einem Instrument zur Verhandlung über Arzneimittelpreise zu einem Werkzeug entwickelt, das darüber entscheidet, ob uns als Patienten ein bestimmtes Arzneimittel verordnet werden darf. Ich sehe die Tendenz, aus Kostengründen Defizite in der Arzneimittelversorgung in Kauf zu nehmen. Das ist nicht nur einfallslos, sondern falsch. Es wird dazu führen, dass, anders als in der Vergangenheit, Patienten in Deutschland von neuartigen Therapien nicht als Erste, sondern später oder gar nicht profitieren. Für jeden Einzelnen steht hier viel auf dem Spiel.
In Sachen Digitalisierung gilt das deutsche Gesundheitswesen als rückständig. Ein Grund wird die Sorge der Menschen um die Sicherheit ihrer Daten sein. Der BPI hingegen sieht hier „immense Chancen“. Was meinen Sie damit?
Zentgraf: Das deutsche Gesundheitswesen strotzt bereits heute geradezu vor Daten. Deutschland ist einer der wichtigsten Standorte für klinische Arzneimittelforschung. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist flächendeckend, rasch, sicher und gut dokumentiert. Viele Patienten tragen selbst über Gesundheits-Apps immer mehr Daten zu ihrem Gesundheits- und Allgemeinzustand bei. Wie allerdings bereits die Diskussion um die Gesundheitskarte seit mehr als einer Dekade zeigt, existieren all diese Daten als Dateninseln. An ihrer Vernetzung und der Nutzung für Versorgungsforschungsprojekte und Produktverbesserungen – selbstverständlich unter Gewährleistung von Privatsphäre und Datenschutz – muss dringend gearbeitet werden. Insbesondere die anonymisierten Daten der Krankenkassen können hier einen entscheidenden Beitrag leisten, da sie noch am ehesten eine Gesamtbetrachtung des jeweiligen Krankheitsbildes erlauben. Der Schatz muss für die Patienten geborgen werden. Und zwar bevor „Piraten“ sich dieser zu eigen machen.
Weiterführende Links:
https://pharma-fakten.de/glossar/schlagwort/amnog/
Foto: BPI