Nun sind es also die Krebsmedikamente, die das System zum Einsturz bringen. Davor waren es die Hepatitis C-Medikamente. Davor die HPV-Impfung. Und vor ein paar Jahren die Einführung der ersten wirksamen Medikamente gegen HIV. Allen Beispielen ist eines gemeinsam: Die an die Wand gemalten Szenarien sind alle nicht eingetreten.
Aber wer unbedingt eine Explosion der Ausgaben belegen will, müsste sich den Gesamtmarkt ansehen, denn Ausgabensteigerungen in einzelnen Indikationsgebieten zeigen nur einen Teil des Bildes. Das hat der Pharma-Statistiker QuintilesIMS getan und die Dynamik der Arzneimittelmärkte der vergangenen 20 Jahre in fünf verschiedenen Ländern analysiert. Die erste wichtige Erkenntnis ist: Die Ausgaben für Arzneimittel sind in Ländern wie den USA, Frankreich, Großbritannien, Japan oder Deutschland zwar gestiegen, gemessen an den gesamten Gesundheitsausgaben aber mehr oder weniger gleichgeblieben. Explosionen sehen anders aus: „Ein Großteil des Wachstums bei Arzneimittelausgaben geht auf den zunehmenden Einsatz neuer und bestehender geschützter Präparate zurück, was durch geringere Ausgaben für nicht mehr geschützte Medikamente ausgeglichen wird,“ bilanziert QuintilesIMS.
Die Dynamik: Manches wird teurer, anderes billiger
In der Tat gibt es im Verlauf der Zeit immer wieder Arzneimittelsegmente, die stark steigen. Das ist meist dort der Fall, wo es Innovationsschübe gibt. Aber: Es gibt eben auch Arzneimittelsegmente, die kostenmäßig stark an Bedeutung verlieren – und so wird die Ausgabensteigerung in einem Segment durch Reduzierungen in anderen Segmenten ausgeglichen:
- Richtig ist, dass die Ausgaben für Krebsmedikamente steigen. Der Grund sind viele neue Arzneimittel. Sie zielen darauf, die zweithäufigste Todesursache in Deutschland immer besser zu bekämpfen. Sie kommen auf den Markt, weil die Wissenschaft und die pharmazeutische Forschung diese Krankheiten immer besser verstehen und diese Erkenntnisse in neue Therapien übersetzen wollen. Ein Teil dieses Wachstums wird aber, so QuintilesIMS, durch den immer höheren Anteil an Generika in diesem Bereich wieder aufgefangen.
Während das Segment der Onkologie also steigt, verlieren andere Arzneimittelsegmente an Bedeutung:
- Beispiel Bluthochdruck: Im Jahr 1995 machten Blutdrucksenker 12 Prozent der gesamten Arzneimittelausgaben in Deutschland aus; 2015 waren es noch vier Prozent.
- Beispiel Antibiotika: Ihr Anteil an den Kosten ist von rund sieben auf knapp zwei Prozent gefallen. Auf patentgeschützte sowie neue Präparate dieser Klasse entfielen in 2015 etwas weniger als ein Prozent der Ausgaben. 1995 waren es 17 Prozent.
- Beispiel Lipidsenker: Das Segment der Cholesterinsenker war im Jahr 2003 noch die die fünftgrößte Produktklasse in Deutschland. In den Jahren zwischen 2002 bis 2015 stieg die Nutzung von Statinen um 135 Prozent an. Die Ausgaben sanken gleichzeitig um mehr als die Hälfte (minus 56 Prozent), weil der Durchschnittspreis für eine Tablette von 0,85 Euro auf 0,16 Euro gefallen war.
In den 1990er Jahren kamen die ersten krankheitsmodifizierenden Biologika auf den Markt. Sie revolutionierten die Behandlungschancen für Entzündungskrankheiten wie rheumatoide Arthritis, Psoriasis, Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn – Krankheiten, bei denen man bis dahin lediglich die Symptome lindern konnte. Auch diese Biologika sorgten für einen Ausgabenschub – schon deshalb, weil nun Menschen behandelt werden konnten, für die es vorher gar keine Therapie gab. Doch auch hier zeigt sich die Dynamik des Arzneimittelmarktes: Denn nun entstehen die ersten Biosimilars – mit großem Aufwand nachgebaute Nachahmerprodukte der Original-Biopharmazeutika, laut QuintilesIMS „die nächste Phase im Lebenszyklus dieser Arzneimittelklasse“. Es sei davon auszugehen, „dass es einen Wechsel von nicht mehr geschützten Arzneimitteln auf ihre Biosimilar-Äquivalente zu niedrigeren Kosten geben wird.“ Auch das gehört in eine Betrachtung über die Ausgabenentwicklung von Arzneimitteln: Innovationen, die eine Zeit lang hochpreisig sein können, werden plötzlich günstiger.
Steigende Preise in einzelnen Arzneimittelsegmenten sind ein Hinweis darauf, dass sich in einzelnen Indikationen „etwas tut“. Es entstehen neue Behandlungsoptionen, wo vorher keine oder nicht zufriedenstellende waren. So sind Bereiche wie etwa die Onkologie, Autoimmunerkrankungen, Multiple Sklerose oder Hepatitis gewachsen. Der IMS-Report rechnet vor, dass in den fünf untersuchten Ländern der gesamte Wachstumsbeitrag neuer patentgeschützter Präparate jährlich ein Volumen von ca. zehn Milliarden Dollar hat. Dem stehen Ausgabenminderungen als Folge von Patentausläufen gegenüber, die seit 2006 deutlich zugenommen haben – in den vergangenen zehn Jahren mit einem durchschnittlichen Volumen von rund 16 Milliarden Dollar pro Jahr.
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