Die Arzneimittelausgaben sind in 2017 um 3 7 Prozent gestiegen. Das soll v.a. an den patentgeschützten Medikamenten liegen. Ihr Anteil hat sich aber praktisch nicht geändert. Foto: CC0 (Stencil)
Die Arzneimittelausgaben sind in 2017 um 3 7 Prozent gestiegen. Das soll v.a. an den patentgeschützten Medikamenten liegen. Ihr Anteil hat sich aber praktisch nicht geändert. Foto: CC0 (Stencil)

Immer größere Versorgungslücken bei neuen Arzneimitteln

Fast jedes dritte innovative Medikament, das seit 2011 eine Nutzenbewertung á la AMNOG durchlaufen muss, steht Patienten in Deutschland nicht mehr zur Verfügung. Das belegt der „AMNOG-Check 2017“, ein Gutachten des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie, BPI. Darin warnen die Gesundheitsökonomen Dieter Cassel und Volker Ulrich vor erheblichen Versorgungs- und Verordnungslücken. Diskussionen über „systemgefährdende Kostenexplosionen“ bei den Ausgaben für Arzneimittel bezeichnete Cassel als „Popanz, bei dem einem Ökonomen die Ohren schlackern.“

„Die Idee ist richtig und wichtig, aber bei der Umsetzung sehen wir erheblichen Handlungsbedarf, denn es führt zu erheblichen Versorgungslücken bei innovativen Medikamenten.“ Seit 2011 gibt es das Arzneimittelneuordnungsgesetz (AMNOG). Seitdem müssen sich neue Medikamente einer Zusatznutzenbewertung unterziehen. Die Frage lautet: Welchen Zusatznutzen hat das neue Medikament gegenüber anderen, die schon auf dem Markt erhältlich sind? Das Ergebnis ist Grundlage für die Preisfestsetzung: „Money for Value“-Prinzip nennen Ökonomen das. Was auch als „Pharmawende“ bezeichnet wurde – de facto beendete das AMNOG die freie Preisbildung von Medikamenten in Deutschland – war vor über sechs Jahren der Beginn eines großen Experiments.

AMNOG: Eine Regulierung mit Barrierewirkung

Tatsache ist: Das AMNOG hat eine Barrierewirkung entfaltet. Waren vor Einführung der Regulierung mehr oder weniger alle von der europäischen Arzneimittelbehörde EMA zugelassenen Medikamente verfügbar (98,45%), sind es in Zeiten des AMNOG noch knapp 82 Prozent. Der Grund sind Medikamente, die gar nicht erst in Deutschland eingeführt wurden. Noch schlechter wird die Bilanz, nimmt man die als Folge der Nutzenbewertung vom Markt genommenen Präparate hinzu: Die Verfügbarkeitsquote ist damit auf rund 70 Prozent gesunken. Prof. Ulrich: „Unsere Untersuchung zeigt, dass damit hierzulande inzwischen fast ein Drittel der von der EMA zugelassenen AMNOG-fähigen Präparate nicht oder nicht mehr verfügbar ist.“ Darunter sind Medikamente gegen Diabetes Typ II, Epilepsie oder Schizophrenie. Marktaustritte kommen zustande, wenn sich die Unternehmen und der GKV-Spitzenverband nicht auf einen Preis einigen können, weil die Ansichten darüber, welchen Zusatznutzen ein neues Präparat hat, zu weit auseinanderliegen.

„Ziel erreicht!“, könnte derjenige jetzt denken, der meint, dass es sowieso zu viele Medikamente gibt. Doch vergleicht man die Liste der in Deutschland nicht verfügbaren Medikamente mit der in anderen Ländern, so zeigt sich: 24 der hierzulande nicht verfügbaren Arzneimittelinnovationen sind für englische Patienten verfügbar. Offenbar kommt das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) zu ganz anderen Ergebnissen als der wesentlich rigorosere Gemeinsame Bundesauschuss (G-BA). Dabei ist davon auszugehen, dass sie auf dieselben klinischen Daten zurückgreifen. Spannend wird es, wenn man die deutsche Liste mit den Niederlanden (18 von 24 verfügbar) oder Frankreich (11 von 24 verfügbar) abgleicht: Denn die Listen sind nicht etwa deckungsgleich. Ein Großteil der in Frankreich nicht verfügbaren Medikamente sind in den Niederlanden verfügbar – und umgekehrt. Dies liegt laut „AMNOG-Check“ daran, dass sich die untersuchten Länder darin unterscheiden, wie Studienendpunkte bewertet, welche Vergleichstherapien angesetzt werden, oder wie man damit umgeht, wenn keine ausreichende Evidenz verfügbar ist. Wie auch immer: Ein hierzulande schlecht bewertetes Medikament, dass in der Folge vom Markt genommen wird, wird in anderen Ländern Europas offenbar anders gesehen. Das Fatale daran: Therapieoptionen sind für eine patientenorientierte Versorgung, was eine gute Traube für einen guten Wein ist: Unerlässlich.

Es gibt also offenbar kein objektives Votum darüber, wann ein Medikament einen Zusatznutzen hat und wann nicht. Deshalb ist es auch erschreckend, wie oft in Deutschland für die Entscheidung „Kein Zusatznutzen“ die empirische Grundlage fehlt. Auf der Ebene der Patienten-Untergruppen (Subgruppen) erfolgt nur jede zehnte Entscheidung (11,5%) auf der Basis der Studiendaten. Für das Gros aber gilt: Der Zusatznutzen wurde nicht gewährt, weil man sich nicht auf die richtige Vergleichstherapie einigen konnte (und deshalb die Studiendaten nicht vorlagen), oder aus anderen, eher formalen Gründen. Es ist eine Bewertung des Zusatznutzens ohne eine Bewertung des Zusatznutzens.

AMNOG: Verfügbarkeitshürde für neu zugelassene Arzneimittel

Doch selbst dort, wo ein positives Votum für einen Zusatznutzen vorliegt, muss das noch nicht bedeuteten, dass ein Medikament auch beim Patienten ankommt. Der AMNOG-Check belegt: In vielen Fällen kommen selbst Präparate, die vom G-BA einen erheblichen oder beträchtlichen Zusatznutzen bekamen, nicht in dem Maße bei den Patienten an, wie es sinnvoll wäre – oder nur mit großer Verzögerung. Als Ursache sehen die Autoren Unsicherheiten, die z.B. durch die unterschiedlichen Bewertungen in den einzelnen Patientengruppen entstehen.

Mit Sorgen sehen Cassel und Ulrich deshalb eine Entwicklung, die sie das AMNOG-Paradoxon nennen: „Mit dem AMNOG ist ein Kreislauf in Gang gekommen, bei dem die Regulierung und Kostendämpfung bei neuen Arzneimitteln ökonomische Sachzwänge auslöst, die höhere Launchpreise – und somit auch höhere Erstattungsbeträge – der nachfolgenden Produktgeneration erzwingt, welche meist mit noch strengeren Preisregulierungen beantwortet werden.“ Sie mahnen an, es mit dem Kostendruck, der durch das AMNOG ausgelöst wird, nicht zu übertreiben.

Denn die durch die Regulierung ausgelösten Einsparungen würden sowieso unterschätzt, so der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des BPI, Dr. Norbert Gerbsch. Denn zu den in 2016 erzielten Einsparungen aus den ausgehandelten Erstattungsbeträgen (rund 1,15 Milliarden Euro) müssten ja noch die Minderausgaben aus Marktrückzügen und Nicht-Einführungen hinzugerechnet werden. Genau wie Cassel plädiert Gerbsch dafür, die Diskussionen über eine „Kostenexplosion“ durch Arzneimittel mit den Fakten in Einklang zu bringen: „Für die gesamte ambulante Arzneimittelversorgung liegt der Anteil der pharmazeutischen Industrie an den Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung seit Jahrzehnten unter 10 Prozent.“ Und dieser Wert ist seit Jahrzehnten ziemlich konstant.

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