Ein schwedisch-finnisches Forscherteam hat die Daten von fast 15.000 Patienten analysiert – und in fünf Erkrankungstypen eingeteilt. Foto: © iStock.com/Toa55 (Akhararat W)
Ein schwedisch-finnisches Forscherteam hat die Daten von fast 15.000 Patienten analysiert – und in fünf Erkrankungstypen eingeteilt. Foto: © iStock.com/Toa55 (Akhararat W)

Chronische Erkrankungen haben es besonders schwer

Arzneimittel für Stoffwechselerkrankungen schneiden in der Frühen Nutzenbewertung des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) überdurchschnittlich schlecht ab. Das geht aus der Analyse „AMNOG-Daten 2017“ des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie (BPI) hervor. Der Grund scheint eine Art Denk-Fehler im AMNOG-System zu sein.

Rund 60 Prozent aller Verfahren, in denen der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) Präparate für Stoffwechselerkrankungen, wie beispielsweise Diabetes oder Schilddrüsenüberfunktion, einer Frühen Nutzenbewertung unterzog, endeten mit der Bewertung „kein Zusatznutzen“. Zum Vergleich: Nimmt man alle Medikamente zusammen, die die AMNOG-Prozedur seit 2011 durchliefen, trifft dieses negative Urteil auf weniger als die Hälfte (42,98 %) von ihnen zu. Bei den onkologischen Arzneimittelinnovationen beträgt die Quote sogar nur rund 21 Prozent (s. Grafik).

Damit schneiden Arzneimittel für Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes besonders schlecht ab. Das gilt auch, wenn man die Untersuchungsebene wechselt: Für rund 78 Prozent der Patientengruppen, die für die Behandlung mit den Arzneimittelinnovationen in Frage kämen, wurde hier „kein Zusatznutzen“ ausgesprochen. Vier von fünf Stoffwechsel-Patienten (82,34 %) sind von den Negativ-Urteilen betroffen – im Vergleich mit anderen Indikationen eine besonders hohe Quote.

 

 

„Kein Zusatznutzen“ heißt nicht „kein Zusatznutzen“

Nun heißt die Bewertung „kein Zusatznutzen“ jedoch nicht, dass ein Medikament tatsächlich keinen Zusatznutzen hat. Denn zu der Bewertung kommt es häufig auch, wenn aufgrund fehlender Studiendaten oder anderer formaler Gründe der Zusatznutzen einfach noch nicht nachgewiesen werden konnte. Und genau hier liegt das Problem: Bei chronischen Erkrankungen wie zum Beispiel der Stoffwechselstörung Diabetes „benötigt der AMNOG-Prozess für eine Nutzenbewertung grundsätzlich Langzeitergebnisse, die bei Markteinführung (Launch) aber noch nicht vorliegen können“, erklären die Gesundheitsökonomen Prof. Cassel und Prof. Ulrich, die Autoren der AMNOG-Daten.

Dementsprechend spielen sogenannte „Surrogat-Parameter“ gerade bei chronischen Erkrankungen eine große Rolle: Pharmaunternehmen nutzen sie als Ersatz für patientenrelevante Endpunkte, um schon früher Aussagen zu der Wirksamkeit einer Therapie treffen zu können. So könnte man beispielsweise aus den Blutzuckerwerten eines Diabetes-Erkrankten zukünftige kardiovaskuläre Ereignisse prognostizieren.

Die Frage nach den geeigneten Bewertungskriterien

Doch „Surrogat-Parameter unterliegen zahlreichen Einschränkungen. Eine Validierung und damit auch Anerkennung ist zwar theoretisch möglich, in vielen Fällen jedoch praktisch kaum durchführbar“, heißt es in den AMNOG-Daten. Das Problem liegt auf der Hand: Surrogat-Parameter können nicht dieselbe Aussagekraft haben wie ein fester klinischer Endpunkt. Doch die Alternative ist, dass Medikamente verspätet oder gar nicht bei den Patienten ankommen.

Dass das inzwischen durchaus zu befürchten ist, darauf weisen die vielen „kein Zusatznutzen“-Bewertungen im Bereich Stoffwechselerkrankungen hin. Schließlich bilden sie die Basis für die späteren Preisverhandlungen. Und da haben es chronische Erkrankungen schon von vornherein nicht leicht. So heißt es in den AMNOG-Daten des BPI: „Gerade bei Arzneimitteln zur Therapie chronischer Erkrankungen werden meist generische Arzneimittel als ZVT [Zweckmäßige Vergleichstherapie] festgelegt.“ Damit ist nicht nur die Therapie festgelegt, gegenüber der die Arzneimittelinnovation ihren Zusatznutzen beweisen muss; sondern auch die Therapie, die als Preiskomparator für die Verhandlungen über den Erstattungsbetrag, fungiert.

Neun Marktaustritte im Bereich Diabetes seit 2011

„Da die Preise generischer Arzneimittel auf Grenzkostenniveau und damit signifikant unter denen von patentgeschützten Präparaten liegen, führt diese Vorgehensweise für die Hersteller zu kaum auskömmlichen und damit kaum akzeptablen Erstattungsbeträgen.“ Das Ergebnis: Pharmaunternehmen nehmen ihre Präparate vom Markt – oder führen sie gar nicht erst ein. Laut der AMNOG-Daten wurden von 2011 bis 2016 neun Medikamente nur im Bereich Diabetes zurückgenommen bzw. zurückgezogen.

Das Beispiel der Stoffwechselerkrankungen zeigt: Das AMNOG-System hat eine Art Denk-Fehler. Die Medikamente aller Indikationen sollen von den prüfenden Institutionen gleichbehandelt werden – und daher erlegt man ihnen die gleichen Bewertungsmechanismen auf. So führt beispielsweise das Fehlen von Studiendaten bei allen Arzneimitteln dazu, dass die Bewertung befristet ausgesprochen wird und zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt werden kann. Das klingt erstmal fair – ist es aber nicht, wenn man bedenkt, dass die Indikationen selbst nicht alle gleich sind. So liegen die erforderlichen Studiendaten bei einem akuten Krankheitsbild naturgemäß viel schneller vor als bei einem chronischen. Hinzu kommt: Medikamente, die aufgrund der negativen Erstbewertung und ungünstigen Preisverhandlungen nicht mehr auf dem deutschen Markt zur Verfügung stehen, können nicht neu bewertet werden. Die beiden Autoren der AMNOG-Daten plädieren daher für eine „Anpassung der Bewertungskriterien, damit sinnvolle und wichtige Entwicklungsschritte in der Therapie weiter erfolgen und nicht an Deutschland vorbeigehen“.

Foto: istockphoto.com

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