Die Hessen haben es gut. Ihre Ärzte haben Zugang zu allen Grippe-Impfstoffen für alle Menschen, die laut Empfehlung der Ständigen Impfkommission STIKO geimpft werden sollen: Dreifach, Vierfach, Nasenspray – vollkommen egal. Der Arzt entscheidet. In Sachsen ist das anders. Dort werden die Ärzte von den Krankenkassen nachdrücklich an bestehende Rabattverträge erinnert. Sie sollen, wann immer möglich, einen dreivalenten Impfstoff verimpfen, weil das „wirtschaftlich“ sein soll. Das ist dort besonders pikant, weil die Sächsische Impfkommission (SIKO) ausdrücklich die bevorzugte Anwendung des quadrivalenten Impfstoffes empfiehlt – aufgrund der breiteren Stammabdeckung. Dafür gibt es wissenschaftliche Begründungen.
Influenza-Impfstoffe gibt es seit 1936. Bis ins Jahr 2013 waren sie vor allem trivalent, da sie Antigene zweier Influenza-A-Stämme und einer Influenza-B-Linie enthielten. 2013 kam der erste quadrivalente Impfstoff auf den Markt – mit zwei A- und zwei B-Stämmen. Das war die Antwort von Impfstoffentwicklern auf die Erkenntnis, dass immer öfter zwei Influenza-B-Stämme zirkulieren – oder eben der B-Stamm, der nicht Teil des saisonalen Impfstoffes ist. Das war in Europa z.B. in der Grippesaison 2015/2016 der Fall. Ein aktueller Blick nach Australien zeigt ein ähnliches Bild. Dort geht in diesen Tagen die schwerste Influenzawelle seit 15 Jahren zu Ende. Über 90 Prozent der bisher untersuchten Proben bei Influenza B zählen zu der Linie, die in dem aktuellen Dreifachimpfstoff nicht enthalten ist. Den Australiern dürfte das egal sein; denn: „Dieses Jahr sind ausschließlich quadrivalente Impfstoffe erhältlich“, schrieb das Gesundheitsministerium in Canberra.
Krankenkassen pochen auf Verträge, die es eigentlich nicht mehr geben soll
In Deutschland ticken die Uhren noch anders. Einige Krankenkassen pochen auf die Einhaltung von Rabattverträgen, die es eigentlich nicht mehr geben soll, denn sie wurden per Gesetzesänderung im Mai 2017 abgeschafft. Solche Rabattverträge gab es aber nur für die herkömmlichen Impfstoffe, denn die Krankenkassen waren nie bereit, für breiter wirkende, viervalente Impfstoffe mehr Geld auszugeben.
Bis zur Gesetzesänderung im Mai war der Grippeimpfstoffmarkt ein „Ausschreibungsmarkt“. Die Krankenkassen vereinbarten Rabattverträge mit den Herstellern, die teilweise exklusiv waren. Das einzige Kriterium für den Zuschlag war der niedrigste Preis. Das war aus Sicht der Impfstoffhersteller ein wenig attraktives Angebot für ein komplexes, biologisches Präparat, das jährlich neu produziert werden muss und dessen Herstellung sechs Monate in Anspruch nimmt. Im Falle der viervalenten Vakzine handelt es sich zudem um einen neu entwickelten Impfstoff, von dem man ausgehen kann, dass er zu einer „stabileren Wirksamkeit von Impfstoffen über die Saisons hinweg und mit einer breiteren Wirksamkeit einen Beitrag zur globalen Influenzaprävention leisten kann.“ Es ist also kein Wunder, dass sich immer weniger Hersteller im Grippemarkt engagieren wollen.
Gesetz wird gezielt unterlaufen
Eigentlich ist auch in Deutschland alles klar: Seit Inkrafttreten der Gesetzesänderung dürfen Ärztinnen und Ärzte den Impfstoff verordnen, den sie für sinnvoll erachten. Eine Einschränkung auf bestimmte Hersteller und Impfstoffe besteht nicht – ungeachtet der auslaufenden Rabattverträge. Das hat das Bundesgesundheitsministerium (BMG) den Gesetzlichen Krankenkassen in einem erläuternden Brief zum Gesetz noch einmal schriftlich mitgeteilt. Das Ziel ist klar definiert: Die Unsicherheit im Impfstoffmarkt soll weg, damit die Versorgung sichergestellt und verbessert werden kann.
Ein Pochen der Krankenkassen auf Einhaltung der Rabattverträge, die teilweise bis ins Jahr 2019/2020 gelten, entspricht deshalb nicht dem Ziel des Gesetzgebers. Auch das haben die Krankenkassen vom BMG schriftlich, aber einigen scheint das egal zu sein. Die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg empfiehlt ihren Ärzten deshalb, unbedingt die rabattierten Grippeimpfstoffe zu verordnen: „Auch für die nächste Grippesaison gelten in Hamburg die bisherigen Rabattverträge nach Auffassung der Kassen weiter. […] Wir empfehlen unbedingt diese Rechtsauffassung der Kassen zu berücksichtigen und die Bestellung der Grippeimpfstoffe entweder noch zurückzustellen oder die Bestellung auf die oben angegebenen Impfstoffe zu beschränken.“ Wilder Westen in Deutschland: Was kratzt es eine deutsche Krankenkasse, wenn sich ein Bundesgesundheitsminister an ihr reibt?
Besser könnte am Ende billiger sein
Billig statt besser – auch ein Blick in die Zahlen zeigt, wie wenig sinnvoll die Energie eingesetzt ist, die Krankenkassenvertreter darauf verwenden, für Verträge zu kämpfen, die niemand mehr will. Für Grippe-Impfstoffe gibt die GKV rund 120 Millionen Euro im Jahr aus. Das ist ein Anteil von 0,3 Prozent der Gesamtausgaben für Arzneimittel. In der Realität dürften die Ausgaben aber deutlich niedriger sein, denn diese offiziellen Zahlen berücksichtigen nicht die Einsparungen durch Ausschreibungsrabatte, die geheim gehalten werden. Demgegenüber zeigen Modellrechnungen, dass in Deutschland durch den Einsatz eines viervalenten Impfstoffes pro Jahr circa 276.500 Krankheitsfälle und über 260 Todesfälle vermieden werden könnten. Besser könnte am Ende sogar billiger sein.
Die Krankenkassen versuchen einen Zug anzuhalten, der den Bahnhof schon verlassen hat. Ihr Beharren auf alte Rabattverträge ist für den Impfgedanken ein Bärendienst. Denn zurück bleiben verunsicherte Ärzte und Versicherte – und das sorgt bestimmt nicht für höhere Impfquoten. Am Ende dürften den Vierfach-Impfstoff vor allem privat Versicherte erhalten. Für die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen (KVN) ist das nur logisch: „Der gesetzlich Versicherte hat nur einen geminderten Anspruch auf das, was alles angeboten wird auf dem Gesundheitsmarkt. Das unterscheidet eben den gesetzlich Versicherten vom privat Versicherten“, so Jörg Berling von der KVN im Interview mit dem Nachrichtensender N24.