Daten aus England zeigen: 2020 haben mehr heterosexuelle Menschen eine HIV-Diagnose erhalten als schwule und bisexuelle Männer. Foto: ©iStock.com/utah778
Daten aus England zeigen: 2020 haben mehr heterosexuelle Menschen eine HIV-Diagnose erhalten als schwule und bisexuelle Männer. Foto: ©iStock.com/utah778

HIV-Therapie, weitergedacht

Im Jahr 2030 werden zwei von drei HIV-Patienten in Deutschland älter als 50 Jahre alt sein. Viele von ihnen werden Begleiterkrankungen haben. Für die Entwicklung von HIV-Medikamenten ist das eine große Herausforderung.

Der Durchschnitt ist 47 Jahre. So alt ist heute ein HIV-Infizierter in Deutschland. Wer hätte das vor 35 Jahren gedacht? Als das HI-Virus Anfang der achtziger Jahre über die Welt hereinbrach, wurde das Überleben der betroffenen Menschen in Monaten und weniger in Jahren gemessen.

Das ist heute anders. Wie eine jüngst veröffentlichte Studie belegt, leben HIV-Infizierte in Europa und den USA länger und besser als je zuvor. Dafür haben die Wissenschaftler die Daten von 88.504 Patienten zusammengetragen und ausgewertet. Zwischen 1996 and 2010 ist die Lebenserwartung 20-jähriger Patienten, die eine HAART-Therapie* begonnen hatten, um neun (Frauen) bzw. zehn Jahre (Männer) gestiegen. Das sind angesichts des kurzen Zeitraums erstaunliche Werte: Ein Patient, der nach 2008 im Alter von 20 Jahren eine HIV-Behandlung startete, wird statistisch betrachtet 78 Jahre alt. Das entspricht mehr oder weniger der Lebenserwartung Nicht-Infizierter. Als Gründe sehen die Wissenschaftler: Neue, wirksame und nebenwirkungsärmere Medikamente, höhere Therapietreue, Präventionsmaßnahmen sowie bessere Erfolge bei der Behandlung von Begleiterkrankungen (Ko-Morbiditäten). Die Zahlen sind der Beleg einer beindruckenden pharmazeutischen Erfolgsgeschichte.

Langzeitgesundheit steht ganz oben auf dem Zettel

Die Demografie macht auch vor von HIV betroffenen Menschen nicht halt: Die steigende Lebenserwartung bringt ein ganzes Bündel an Risiken für chronische Erkrankungen mit sich – z.B. Diabetes, Herz-Kreislauf- oder Demenzerkrankungen. Die Folgen einer jahrzehntelangen, täglichen HIV-Therapie plus die Begleiterscheinungen eines steigenden Alters sind eine Herausforderung für HIV-Patienten. Deshalb haben sich mit den Erfolgen der Medikamente die Therapieziele verschoben. In den achtziger Jahren ging es vor allem darum: Leben retten. Als dies immer besser gelang, sprach man von der Kontrolle der Viruslast. Aber moderne HIV-Medikamente müssen heute mehr können. Sie sollen vor allem in den Indikationsgebieten Nephrologie (Niere), Kardiologie (Herz) und Osteologie (Knochen) kein zusätzliches Risiko beinhalten. Neben der Viruskontrolle steht die Langzeitgesundheit ganz oben auf dem Zettel derer, die HIV immer besser behandeln und eines Tages sogar heilen wollen.

Aber Statistiken haben auch ihre Tücken. Denn die vergleichbare Lebenserwartung erreichen in der Regel nur die Patienten, die nicht nur früh mit der Therapie begonnen haben, sondern die auch frei von Begleiterkrankungen sind, bzw. deren Begleiterkrankungen wirksam behandelt werden. Doch bei HIV-Infizierten kann es im Laufe der Jahre verstärkt zu kardiovaskulären Erkrankungen, Knochenbrüchen und auch Nierenversagen kommen. Die Anforderungen an moderne HIV-Medikamente sind eigentlich eine Quadratur des Kreises: Sie sollen im Vergleich zu älteren Medikamenten nur noch einen Bruchteil an Wirkstoff beinhalten, dadurch das Nebenwirkungspotenzial verringern, aber die gleich hohe Wirksamkeit vorweisen. Laborparameter deuten darauf hin, dass das funktioniert. Je früher die Weichen für eine langfristige Gesundheit der HIV-Patienten gestellt werden, desto besser sind ihre Prognosen – so lautet heute das Mantra von HIV-Medizinern.

Zwei statt drei Wirkstoffe

In den USA wurde erst kürzlich ein neues Präparat zugelassen, das nur noch zwei Wirkstoffe in sich vereint – es ist das erste Präparat seit Einführung der HAART-Therapie, dass nicht mehr mindestens drei Substanzen in einer Tablette enthält. „Die Zahl der Medikamente zu begrenzen, hilft die Toxizität zu reduzieren“, heißt es bei der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA. Andere schwören weiter auf drei Wirkstoffe – und kombinieren Bewährtes mit neu entwickelten Wirkstoffkandidaten. Die Wege sind verschieden, das Ziel das Gleiche: Wirksame Medikamente, die möglichst „sanft“ eingreifen.

Täglich Pillen schlucken ist für HIV-infizierte Menschen Alltag. Aber auch das könnte sich ändern. In der klinischen Entwicklung schon relativ weit fortschritten sind Kombinationspräparate, die injiziert werden. Der Vorteil: Sie haben eine lange Halbwertzeit; sprich: ihre Wirkung hält lange an und sie müssen deshalb nur alle vier oder sogar nur alle acht Wochen appliziert werden. Dies hat eine Studie mit einem neu entwickelten Integrasehemmer in Kombination mit einem Non-Nukleosid-Inhibitor gezeigt. Die Hoffnung dahinter: Wenn die HIV-Therapie dadurch weiter vereinfacht werden kann, hat das in der Regel positive Auswirkungen auf die Therapietreue (Compliance) der Patienten. Auch als mögliche Präexpositionsprophylaxe (PrEP) sind injizierbare HIV-Medikamente im Gespräch. Sie könnten damit einen weiteren Beitrag zur Reduktion der Neu-Infektionsraten vor allem in Risikogruppen leisten. Sogar Implantate werden untersucht; zusammen mit neuen Substanzen mit langer Wirkdauer wäre eine einmalige Gabe pro Jahr dann keine Zukunftsmusik mehr.

„Dank des medizinischen Fortschritts können immer mehr Menschen mit einer nachgewiesenen HIV-Infektion und einer rasch begonnenen, erfolgreichen Therapie ein fast normales Leben führen. Trotzdem dürfen wir nicht vergessen, dass HIV weiterhin nicht heilbar ist“, erklärt Prof. Dr. med. Elisabeth Pott, Vorstandsvorsitzende der Deutschen AIDS-Stiftung. Für die Forschung bleibt noch viel zu tun.

 

Immerhin: Nicht nur Arsenal und Qualität der HIV-Medikamente werden immer besser. Auch die Zahl der weltweit behandelten Menschen steigt weiter an, wie UNAIDS berichtet. Noch nie waren weltweit so viele Menschen unter Therapie (s. Grafik); es sind fast 21 Millionen Menschen, die heute täglich ihre HIV-Medikamente bekommen. Im Jahr 2000 waren es noch 685.000, im Jahr 2005 2,2 Millionen Betroffene. Obwohl schon viel erreicht wurde, gilt auch heute noch: Viele Millionen Menschen erhalten noch immer keine lebensverlängernde Therapie. 

* HAART steht für hochaktive antiretrovirale Therapie (engl.: Highly Active Anti-Retroviral Therapy). Sie ist die Bezeichnung für eine 1996 eingeführte Kombinationstherapie, die nach HIV-Infektion den Ausbruch von AIDS verhindern soll. Im Rahmen der HAART wird eine Kombination aus drei (oder vier) antiretroviralen Wirkstoffen eingesetzt. Die Einführung von HAART war ein Meilenstein der HIV-Therapie.

Weiterführende Links:
https://www.welt-aids-tag.de/

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