Der Bundesrat hat jetzt einem umstrittenen Gesetz zugestimmt  das die Sicherheit in der Arzneimittelversorgung verbessern soll. Foto: CC0 (Stencil)
Der Bundesrat hat jetzt einem umstrittenen Gesetz zugestimmt das die Sicherheit in der Arzneimittelversorgung verbessern soll. Foto: CC0 (Stencil)

Paradigmenwechsel in der Behandlung?

Erste Behandlungsmöglichkeiten für Menschen mit der Blutungsstörung Hämophilie gibt es erst seit den 1960er Jahren. Heute können sie mit den geeigneten Wirkstoffen ein fast normales Leben führen. Aber nur fast. Denn Injektionen sind in der Regel mehrmals wöchentlich notwendig. Nicht zu sprechen von Patienten, bei denen die Therapie nicht so anschlägt, wie sie soll. Die Pharmaindustrie arbeitet daher an vielen neuen Ansätzen – die die Behandlung der Erkrankten grundlegend verändern könnten.

Wurde bei einem Kind Anfang der 1900er Jahre Hämophilie, auch bekannt als Bluterkrankheit, diagnostiziert, hatte es eine Lebenserwartung von elf Jahren. Heute ist das anders. Heute kann es dank effektiver Medikamente genauso alt wie ein gesundes Kind werden.

Die Erkrankung wird meist schon in jungen Jahren festgestellt. Der Grund: Sie ist erblich bedingt. Da sie an das X-Chromosom gebunden ist, wird sie im Großteil der Fälle von der Mutter an ihren Sohn übertragen. Bei den Patienten fehlt ein wichtiges Protein – oder es liegt in nicht ausreichender Konzentration vor. Zusammen mit anderen Eiweißen ist es eigentlich dafür zuständig, dass Blut im Rahmen einer Wundheilung gerinnt – und die Blutung gestoppt wird.

Eine tödliche Gefahr

Weltweit leiden etwa 320.000 Menschen (ca. 80 %) an der häufigsten Form der Erkrankung: Hämophilie A. Bei ihnen fehlt oder mangelt es am Eiweiß „Faktor VIII“. Es kann daher nicht (ausreichend) an andere Gerinnungsfaktoren binden. Dies führt zu spontanen Blutungen in Gelenken, Muskeln und Organen – auch ohne, dass vorher eine äußere Verletzung auftrat. Noch im Kindesalter können so bleibende Behinderungen entstehen. Sind wichtige Organe wie das Gehirn betroffen, ist im schlimmsten Fall das Leben in Gefahr. Etwa die Hälfte der Hämophilie A-Patienten leidet an einer schweren Form der Erkrankung, d.h. bei ihnen ist kein oder fast kein Faktor VIII vorhanden.

Früher kam die Diagnose Hämophilie oft einem Todesurteil gleich. Eine erste Erwähnung der Erkrankung findet sich im jüdischen Talmud etwa 100 n.d.Z. Darin heißt es, dass Jungen, deren zwei Brüder nach einer Beschneidung verblutet waren, von dem Ritual befreit wurden. Eine Therapie gab es nicht. Der große Durchbruch kam erst in den 1960er Jahren: Da gelang es, das Faktor VIII-Eiweiß vom Blutplasma zu trennen. Damit konnten erstmals die Blutungen der Patienten durch Substitution des fehlenden Proteins ambulant behandelt werden.

1990er: Faktor VIII durch Gentechnik

Als etwas später auch gefriergetrocknete, aus Plasma hergestellte Faktor-Konzentrate auf den Markt kamen, war es den Patienten möglich, ihre Blutungen sofort von Zuhause aus zu behandeln – ein echter Schritt hin zu mehr Lebensqualität. In den 1990er Jahren erhielten schließlich die ersten rekombinanten Faktor VIII-Präparate (bzw. bei Hämophilie B: rekombinantes Faktor IX-Präparat) die Zulassung von den Gesundheitsbehörden. Seitdem sind sie Hauptbestandteil einer jeden Hämophilie-A-Behandlung. Sie werden nicht mehr aus Blutplasma gewonnen, sondern gentechnisch hergestellt. Für die Patienten bedeutete das: mehr Sicherheit und eine bessere Verfügbarkeit. Inzwischen stehen mehrere Produkte zur Verfügung, die sich in Packungsgröße, ihrer Haltbarkeit oder in ihrer genauen Zusammensetzung unterscheiden.

Dr. Stefan Frings / Foto: © Roche Pharma
Dr. Stefan Frings / Foto: © Roche Pharma

Heute können Hämophilie-Patienten in der Regel ein weitgehend normales Leben führen – vor allem, weil die Faktor-Produkte auch vorbeugend eingesetzt werden. Akute Blutungen können so von vornherein verhindert werden. Doch der medizinische Bedarf ist weiterhin groß – und somit die Notwendigkeit für Forschung. „Wir wissen, dass trotz prophylaktischer Dauertherapie […] bei schwerer und teilweise auch moderater Hämophilie Blutungen auftreten können. Die Folgen reichen von Schmerzen über Gelenkschäden bis hin zu Gehbehinderungen“, erzählt Dr. med. Stefan Frings, Medizinischer Direktor der Roche Pharma AG.

Eingeschränkte Lebensqualität

„Eine weitere Herausforderung für die Patienten ist es, die Therapie in den Alltag zu integrieren: So müssen die bisherigen Standardmedikamente für Patienten mit schwerer Hämophilie beispielsweise mehrmals pro Woche intravenös gegeben werden.“

Diese regelmäßigen Injektionen bedeuten für die Erkrankten – und gerade für betroffene Kinder – eine große Einschränkung in ihrer Lebensqualität. Letztlich können darunter die Therapietreue und damit der Behandlungserfolg leiden.

„Bei 25 bis 30 Prozent der Menschen mit schwerer Hämophilie A bildet das körpereigene Abwehrsystem zudem Hemmkörper, die die Behandlung unwirksam machen“, fügt Frings hinzu. Die Folge: ein hohes Risiko für Blutungen, wenige Behandlungsmöglichkeiten – und oft noch mehr Infusionen.

Auf der Suche nach Alternativen

Pharmaunternehmen arbeiten daher daran, für Menschen mit Hämophilie die bestehenden Therapien zu verbessern oder Alternativen zu finden. Mit Erfolg: Seit dem vergangenem Jahr stehen Medikamente mit Faktoren zur Verfügung, die länger im Blut bleiben und nur langsam vom Körper abgebaut werden. Sie müssen daher seltener gespritzt werden – und sind eine große Entlastung für die Patienten.

Zudem sind Therapieansätze in der Forschung und Entwicklung, die ohne die Substitution der Faktoren auskommen – weil sie an anderen Stellen der Erkrankung angreifen. Für Patienten, die Hemmkörper gegen die injizierten Ersatzproteine bilden, gibt das Hoffnung. So könnte in Europa bald ein sogenannter bispezifischer Antikörper zur Verfügung stehen, der die Funktion von Faktor VIII „nachahmt“ – sich in seinem Aufbau aber davon unterscheidet. „Dadurch kann die Substanz auch bei Patienten mit Hemmkörpern gegen Faktor VIII zur prophylaktischen Therapie eingesetzt werden“, erklärt Frings den Mehrwert. Ein weiterer Vorteil: Eine subkutane Injektion pro Woche ist ausreichend. In den USA ist das Medikament bereits zugelassen, von der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA wird es momentan noch in einem beschleunigten Verfahren geprüft.

Dr. Nils Pfaff / Foto: © Das Bayer-Forschungsmagazin research
Dr. Nils Pfaff / Foto: © Das Bayer-Forschungsmagazin research

Zusätzlich versuchen Pharmaunternehmen Wirkstoffe zu entwickeln, die die natürlichen, gerinnungshemmenden Mechanismen blocken, sodass die Blutgerinnung gefördert wird. „Angriffspunkte für diesen Ansatz sind Anti-Gerinnungsfaktoren wie TFPI, der sogenannte Tissue Factor Pathway Inhibitor“, erklärt Dr. Nils Pfaff, Wissenschaftler in der Herz-Kreislauf-Forschung bei der Firma Bayer. „Indem wir auf TFPI zielen, helfen wir, das Blutgerinnungssystem der Hämophilie-Patienten zurück in Balance zu bringen und eine normalisierte Gerinnung wiederzuerlangen.“

Große Hoffnung: Gentherapie

Große Hoffnung liegt aber auch auf der Gentherapie: Mit ihrer Hilfe soll eine gesunde Kopie des defekten Gens durch z.B. einen Virus in den Körper transportiert werden. Dort kann sie dann die Produktion von Faktor VIII initiieren. Auch die Deutsche Hämophiliegesellschaft sieht darin ein großes Potenzial: „Die Zukunftsvision ist die Heilung der Hämophilie durch Gentherapie“, erklärt die Organisation in einem Video auf ihrer Webseite.

Prof. Dr. med. Oldenburg vom Hämophilie-Zentrum der Uniklinik Bonn weist jedoch darauf hin, dass die Behandlung schon jetzt einen sehr hohen Standard erreicht hat: „Es ist geradezu ein Parade-Beispiel dafür, wie Forschung und die Entwicklung neuer Technologien die Behandlung kontinuierlich verbessert haben“. Heute ständen „sichere, sehr wirksame und sehr lang wirksame Präparate“ zur Verfügung, die den Patienten ein weitgehend normales Leben ermöglichen, resümiert er.

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