"Transparenz zeigt Forschungsstärke" - zum dritten Mal haben Pharmaunternehmen die Leistungen an Ärzte veröffentlicht. Foto: © iStock.com/ijeab
"Transparenz zeigt Forschungsstärke" - zum dritten Mal haben Pharmaunternehmen die Leistungen an Ärzte veröffentlicht. Foto: © iStock.com/ijeab

Nichts Genaues weiß man nicht

Seit 2011 werden in Deutschland neue Arzneimittel nach ihrem Zusatznutzen gegenüber bereits bewährten Medikamenten untersucht und bewertet (AMNOG-Verfahren). Damit diese Beschlüsse auch im Versorgungsalltag ankommen, sollen sie nun in die den Ärzten zur Verfügung stehenden Praxissoftwares integriert werden. Das sieht das Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AMVSG) vor, das im Mai 2017 in Kraft trat; ein entsprechendes System muss nun entwickelt werden. Auf einen Blick, so die Idee, soll Ärztin oder Arzt eine Übersicht darüber bekommen, wie neue Medikamente bewertet sind. Wie das Arztinformationssystem (AIS) aussehen soll ist noch unklar. Klar ist nur: Die Umsetzung wird – milde formuliert – eine Herausforderung.

Ärzte haben verschiedene Quellen, um sich über Nutzen und Risiken von Medikamenten ein Bild zu machen. Neben ihrem Wissen und ihrer Erfahrung können das Fortbildungsmaßnahmen sein oder auch die Leitlinien der jeweiligen medizinischen Fachgesellschaften. Diese sind wissenschaftlich fundierte, auf die Versorgungspraxis ausgerichtete Empfehlungen, die den praktizierenden Medizinern die Entscheidung im Einzelfall erleichtern soll. Sie sind auf die Behandlungs- und Entscheidungssituationen im Alltag zugeschnitten und stellen optimalerweise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft dar. Das neu zu entwickelnde AIS soll in Zukunft die Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) abbilden, der für seit 2011 zugelassene neue Medikamente seine Bewertung des Zusatznutzens abgibt. Das Problem dabei: Medizinische Fachgesellschaften und G-BA bewerten Medikamente oft vollkommen unterschiedlich.

Das zeigt ein Gutachten, das der Verband der forschenden Pharmaunternehmen (vfa) in Auftrag gegeben hat. Die Fragestellung: Taugen die Nutzenbewertungsbeschlüsse des G-BA überhaupt zur Steuerung von medikamentösen Verordnungen? Dazu haben sich die Autoren die G-BA-Beschlüsse zu 37 neuen Krebsmedikamenten angeschaut und mit den Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaft DGHO verglichen – insgesamt waren es 56 Verfahren und 102 unterschiedliche Patientengruppen. Letztere werden gebildet, weil etwa Brustkrebs nicht gleich Brustkrebs ist. Die genetischen Auslöser können gänzlich verschieden sein, weshalb auch Medikamente ganz unterschiedliche Wirkungen entfalten können.

Brustkrebs: Keine Übereinstimmung zwischen Leitlinie und Nutzenbewertung

So haben die Gutachter herausgefunden, dass es bei Brustkrebs zwischen Leitlinien und G-BA-Beschlüssen bei keinem Medikament eine komplette Übereinstimmung gibt. Das Fazit ist deshalb auch sehr deutlich: Die G-BA Beschlüsse „eignen sich […] nicht als Therapieempfehlung oder zur Verordnungssteuerung. Eine Verordnungssteuerung auf Grundlage des G-BA Beschlusses würde zu einer gravierenden Verschlechterung der Patientenversorgung führen, da für einen großen Teil der Patienten gemäß Versorgungsleitlinie auch Arzneimittel ohne belegten Zusatznutzen zur Behandlung sinnvoll und notwendig sind.“

Dabei ist weniger überraschend, dass es überhaupt Unterschiede in der Bewertung von Medikamenten gibt. Überraschend ist, wie hoch der Grad der Abweichungen ist. In 38 Prozent der Fälle hat der G-BA andere oder teilweise andere Patientengruppen gebildet. Und legt man die Beschlüsse von G-BA und medizinischer Leitlinie übereinander „zeigt sich ein partieller oder kompletter Widerspruch („Diskordanz“) bei 60 Prozent der Patientengruppen“, so die Gutachter. In nicht einmal der Hälfte der Fälle stimmen Leitlinie und Nutzenbewertung überein, wenn es um den Einsatz von Medikamenten geht.

Widersprüche, die zu Lasten der Patienten gehen

Auch für Ärzte, die Lungenkrebspatienten behandeln, dürfte ein solches AIS kaum eine Hilfe sein: Bei acht von neun Medikamenten bzw. 17 von 27 Patientengruppen gibt es Widersprüche zwischen Zusatznutzenbeschluss und Leitlinienempfehlung. Aus Sicht der Autoren zeigt das Beispiel des Wirkstoffes Crizotinib das ganze Dilemma: Bei Lungenkrebspatienten mit einer bestimmten genetischen Disposition („ROS-1-Patienten“) spricht die Leitlinie von einer alternativlosen Behandlung; der G-BA jedoch sagt: „Zusatznutzen nicht belegt“: „Der dort bestehende Widerspruch von G-BA-Zusatznutzenbeschluss und Leitlinienempfehlung ist aus Versorgungsperspektive besonders kritisch, da keine adäquate alternative Behandlung für Patienten möglich ist“, so die Gutachter.

Tatsache ist: Viele Medikamente, denen das AMNOG-System keinen Zusatznutzen bescheinigt, spielen in der Versorgung eine wichtige Rolle. Ein „Zusatznutzen nicht belegt“ bedeutet eben nicht zwangsläufig „für die Versorgung nicht erforderlich“, wie die Gutachter betonen. Gerade das Beispiel Lungenkrebs zeige „in beeindruckender Weise, wie häufig und unter welchen Umständen eine gute Patientenversorgung auch auf Arzneimittel ohne belegten Zusatznutzen zurückgreifen muss.“ Schließlich heißt „nicht belegt“ nicht, dass das geprüfte Medikament keinen Nutzen hat – es hätte sonst ja auch keine Zulassung erhalten.

Bleibt die Frage, warum die Meinungen über den Einsatz von Medikamenten so weit auseinanderliegen. Auch hier haben die Autoren des Gutachtens eine Antwort: „Eine am Patientenwohl orientierte Optimierung der Versorgung hat zwangsläufig einen ‘Conflict of Interest’, wenn sie aus einem an Preisoptimierung orientierten AMNOG System entstammt“, schreiben sie. Der Fokus eines G-BA Beschlusses sei „anders als die Leitlinien primär zur Preisregulierung und nicht zur Therapieoptimierung gedacht.“ Leitlinien haben einen anderen Schwerpunkt: Sie wollen die klinische Versorgung steuern und optimieren. Man könnte auch sagen: Im ersten Fall steht das Geld, im zweiten der Patient im Mittelpunkt der Betrachtung.

Noch steht in den Sternen, in welcher Form es die Nutzenbewertungsbeschlüsse in die Praxissoftware schaffen sollen. Vor dem Hintergrund der Divergenzen sind die Ärzte nicht zu beneiden: Wie sollen sie entscheiden, wenn Leitlinie und Nutzenbewertung zu abweichenden Ergebnissen kommen?

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