Die alte Dame muss sich ein wenig konzentrieren, aber dann gelingt ihr, was auch US-Präsident Donald Trump bei einer ähnlichen medizinischen Untersuchung geschafft hat: Sie zeichnet das Zifferblatt einer Uhr mitsamt den Zeigern. Es folgen weitere „kognitive Testaufgaben“ und eine Abfrage zu verschiedenen Alltagsaktivitäten – etwa, ob die 83-Jährige noch eigenständig ein Telefon bedienen kann oder ob sie noch selber einkaufen geht. Am Ende dieses „Comprehensive geriatric Assessments“ (CGA) können die behandelnden Ärzte die so genannte „Fraility“ ihrer Patientin einschätzen, also ihre Gebrechlichkeit – und damit auch die Stärke der Chemotherapeutika, mit der diese Krebspatientin behandelt werden soll.
Rund 480.000 Menschen erkranken nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) jedes Jahr in Deutschland neu an Krebs. Davon waren 35 Prozent Ende 2014 älter als 75 Jahre – neuere Angaben zur Krebsstatistik liegen noch nicht vor. Der Anteil der über 75-Jährigen an der Gesamtbevölkerung lag Ende 2014 aber nur bei 10,7 Prozent, so das Statistische Bundesamt. Will heißen: Krebs ist eine typische Alterskrankheit, jedenfalls bei der Mehrzahl aller Krebsarten.
Aber warum ist das so? Und welche Konsequenzen hat es für die Erforschung und Behandlung von Krebserkrankungen?
„Einer Krebserkrankung liegen immer Veränderungen des Erbguts zugrunde“, erklärt Frank Bernard vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg, „entweder ist die DNA selbst geschädigt, oder eine fehlgesteuerte Regulation führt dazu, dass Gene zu selten oder zu häufig abgelesen werden.“ Schäden am Erbgut können durch UV-Strahlung und andere Umwelteinflüsse entstehen, durch falsche Ernährung, durch Nikotin und Alkohol. „Es kommt aber auch regelmäßig zu Fehlern, wenn eine Zelle ihre DNA vor einer Teilung für die beiden Tochterzellen kopiert“, so Bernard weiter. Nicht immer gelinge es den Tochterzellen, den Schaden zu reparieren. Die Folge: „Je länger ein Mensch lebt, desto mehr verändert sich sein Erbgut. Damit steigt im Alter die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken.“ Frank Bernard hat diese Erkenntnisse in der aktuellen Ausgabe der DKFZ-Hauszeitschrift „Einblick“ zusammengetragen.
Dort kommt auch Prof. Alwin Krämer zu Wort, Leiter der Klinischen Kooperationseinheit Molekulare Hämatologie/Onkologie am DKFZ und am Heidelberger Universitätsklinikum. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Fehlern bei der Zellteilung, die zu Fehlern in der Chromosomenverteilung führen können. Aktuell forscht er zu Chromosomendefekten bei der akuten myeloischen Leukämie. Auch dort zeigt sich: „Patienten über sechzig haben wesentlich häufiger viele Chromosomenfehler als jüngere Patienten.“ Krämer und seine Kollegen versuchen nun herauszufinden, weshalb im Alter immer mehr Fehler bei der Zellteilung auftreten. Dazu untersuchen sie unter anderem Eiweißbestandteile von weißen Blutkörperchen – denn die Produktion von bestimmten Proteinen könnte altersabhängig sein und die Zellteilung von Krebszellen beim Menschen beeinflussen. Krämer hofft, durch seine Forschung neue Ansatzpunkte für Therapien zu finden, die für alte Leukämie-Patienten geeigneter sind als etwa hoch dosierte Chemotherapien oder eine Stammzelltransplantation.
Nicht so sehr in der Forschung, sondern im ganz normalen Klinikalltag beschäftigt sich Dr. Anne Berger mit dem Thema „Krebs im Alter“. Die Oberärztin in der Medizinischen Onkologie am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg gehört zu einem Ärzteteam, das einmal pro Woche eine Sprechstunde für Krebspatienten über siebzig anbietet. Der eingangs erwähnte CGA-Test zählt dort zum Standardprogramm. „Die Hauptschwierigkeit beim Umgang mit älteren Krebspatienten liegt darin, ihren Zustand korrekt einzuschätzen“, sagt Berger, „wir wissen inzwischen, dass man das auf keinen Fall aufgrund des chronologischen Lebensalters tun darf.“ Alte Menschen vertragen eine onkologische Chemo-, Antikörper- oder Immuntherapie oft schlechter als junge Patienten. Häufig werde deshalb ein „weniger aggressives“, aber eben auch „weniger wirksames Therapie-Regime“ angewendet. Andererseits könne man aber auch jemandem „die optimale Therapie vorenthalten“, wenn man seine körperlichen Ressourcen aufgrund des chronologischen Lebensalters unterschätze.
Überschätzte Patienten
Anne Berger verweist auf eine Studie, die 2017 veröffentlicht wurde – darin wurde das CGA mit dem Ersteindruck verglichen, den Onkologen beim Eingangsgespräch mit neuen Krebspatienten gewinnen. Ergebnis: Das geriatrische Assessment liefert zuverlässige Therapie-Prognosen. „Der Ersteindruck von uns Ärzten ist dagegen häufig zu gut“, so Anne Berger, „wir überschätzen die Patienten gerne in ihrer Leistungsfähigkeit“. Was auch daran liege, dass zum Beispiel „demente Patienten im Erstgespräch oft eine Fassade aufrechterhalten können. Die halten wir dann für deutlich fitter als sie sind.“ Die logische Konsequenz aus dieser Erkenntnis: „Man sollte Tools wie das CGA eigentlich allen Patienten im hohen Alter anbieten, aber das ist im Moment überhaupt nicht der klinische Standard.“ Und warum nicht? Anne Berger atmet tief durch: „Zu zeitaufwändig, noch nicht etabliert. Und es gibt durchaus Kollegen, die glauben, sie könnten die Patienten auch so richtig einschätzen – aber das stimmt eben nicht.“
Frauen sind bei ihrer Krebsdiagnose im Durchschnitt 69 Jahre alt, Männer 70 Jahre. Aber es gibt je nach Krebsart deutliche Unterschiede: Mehr als 50 Prozent aller Patienten mit Gallen- oder Harnblasenkrebs sind über 75 Jahre alt, bei Bauchspeicheldrüsenkrebs sind es 46 Prozent, bei Magen- und Darmkrebs jeweils 45 Prozent (s. Grafik). „Erstaunlicherweise liegt Prostatakrebs, der als Krebs des alten Mannes gilt, mit 36 Prozent im Mittelfeld“, sagt Dr. Volker Arndt, Leiter des Epidemiologischen Krebsregisters Baden-Württemberg und der Unit of Cancer Survivorship am DKFZ. Er sieht neben altersbedingten Ursachen wie „zunehmender Instabilität des Genoms, begrenzten DNA-Reparaturmechanismen, schwächerem Immunsystem oder der Anhäufung so genannter freier Radikaler“ auch die „Latenzzeit bei der Entstehung vieler Krebserkrankungen“ als Ursache dafür, weshalb manche Krebsarten oft erst im hohen Alter auftreten. Ganz besonders gilt das für Darmkrebs, „der sehr lange braucht, bis er entsteht – zehn, manchmal auch 20 Jahre.“ Aus diesem Grund ist hier auch die Krebsvorsorge besonders effektiv – nach einer Darmspiegelung ohne Befund, so Arndt, „hat der Patient für zehn Jahre seine Ruhe.“ Darmkrebs zählt zu den wenigen Krebsarten, die in den letzten Jahren deutlich rückläufig sind. Volker Arndt: „Bei den absoluten Zahlen sehen wir seit Einführung der Darmspiegelung einen Rückgang von zehn Prozent, bei den prozentualen Raten sind es sogar 20 Prozent.“
Volker Arndt teilt die Einschätzung vieler Experten, wonach jeder die Möglichkeit hat, einer Krebserkrankung zumindest in gewissem Maße vorzubeugen: „Das Präventionspotenzial liegt bei 40 Prozent.“ Rauchstopp, wenig Alkohol, gesunde Ernährung, Bewegung, Schutz vor Sonnenbrand – all das senkt nicht nur das Krebsrisiko, sondern kann auch nach einer Krebsdiagnose noch helfen. „Das Aufrechterhalten oder Aufnehmen von gesünderem Lebensstil“, so Volker Arndt, „verbessert die Prognose bei einzelnen Tumorarten markant.“ Und zwar weitgehend unabhängig vom Alter.