Als das Robert Koch-Institut (RKI) dieser Tage die „Impfquoten ausgewählter Schutzimpfungen in Deutschland“ veröffentlichte, fiel das Fazit der Autoren eher ernüchternd aus: „Die Zielvorgaben der Europäischen Union werden in Deutschland bisher von keinem einzigen Bundesland annähernd erreicht“, heißt es zum Beispiel zur Influenza-Impfung bei Senioren. In Zahlen: Die Impfquote sank bei den über 60-Jährigen in den letzten Jahren kontinuierlich – von 47,9 Prozent in der Grippesaison 2008/09 auf 34,8 Prozent in der Grippesaison 2016/17.
Bei den Masern strebt die WHO eine 95 Prozent-Quote an, damit die Krankheit bis zum Jahr 2020 eliminiert werden kann. Deutschland ist davon weit entfernt: Die Impfquote für die zweite Masernimpfung lag bestenfalls bei 86,5 Prozent – und auch das nur bei Kindern, die zu diesem Zeitpunkt bereits 36 Monate alt waren. „Das ist nach wie vor viel zu niedrig“, sagt Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Er fordert analog zu gesetzlichen Bestimmungen beispielsweise in Frankreich und Italien „eine Impfpflicht für Kinder vor Eintritt in den Kindergarten gegen übertragbare Erkrankungen. Also nicht unbedingt gegen Tetanus, denn damit können sie niemanden anstecken, sondern gegen Krankheiten wie Keuchhusten und Masern.“
Anders als die Kinder- und Jugendärzte lehnen Politik und pharmazeutische Industrie eine Impfpflicht einhellig ab. So erklärt der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen: „Der vfa ist gegen eine Impfpflicht. Er hält es für besser, auf Überzeugung statt auf Zwangsmaßnahmen zu setzen.“ Ähnlich äußert sich Dr. Klaus Schlüter, beim Pharmaunternehmen MSD für die Impfstoffe verantwortlich: „Ich setze auf die Freiwilligkeit. Wir müssen die Menschen überzeugen, wir können sie nicht zwingen. Mir hat auch noch niemand erklären können, wie man einen Impfzwang durchsetzen und sanktionieren könnte.“
Und die Bundesregierung antwortete kurz vor Weihnachten auf eine „Kleine Anfrage“ der FDP: „Vor dem Hintergrund der durch den Gesetzgeber zuletzt getroffenen Regelungen wird eine allgemeine Impfpflicht derzeit nicht als geboten angesehen.“ Mit den „Regelungen“ ist das „Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention“ gemeint. Es sieht unter anderem vor, dass auch Betriebsärzte allgemeine Schutzimpfungen vornehmen können oder dass ungeimpfte Kinder vom Hort-, Kita- und Schulbesuch ausgeschlossen werden können, wenn dort Masern auftreten.
Impfbarrieren abschaffen
Aber reicht das wirklich? „Nein, trotz allem, was die Politik bisher wohlmeinend beschlossen hat, sind die Impfquoten nicht ausreichend“, sagt Kinder- und Jugendarzt Thomas Fischbach. Und weiter: „Wir sind nicht militant unterwegs, aber man muss sehen, dass wir nicht nur eine Verantwortung für uns selber haben, sondern auch für unsere Mitmenschen. Es gibt Personen, die beispielsweise nicht gegen Masern geimpft werden können, etwa junge Säuglinge und chronisch kranke Kinder mit Störungen des Immunsystems, etwa unter Tumortherapie – und die sind den Krankheiten dann schutzlos ausgeliefert. Das ist ein unsoziales Verhalten.“ Allerdings sei eine Impfpflicht – die in Italien übrigens bereits Erfolge zeige – nur „die letzte Möglichkeit, wenn alle anderen Mechanismen nicht greifen.“
Fischbach empfiehlt, den Blick nach Skandinavien zu richten, wo keine Impfpflicht gelte und die Impfquoten trotzdem deutlich besser seien: „Dort gibt es Schulkrankenschwestern. Die gehen in die Schulen, suchen nach Impflücken und schließen sie dann“. Tatsächlich zeigen die Zahlen des RKI, dass die Impfquoten im Vorschulalter deutlich besser sind als etwa bei Teenagern – die Schulen wären also auch in Deutschland ein sinnvoller Ansatzpunkt.
Noch wichtiger als eine Impfpflicht wäre es für Fischbach, wenn endlich „innerärztliche Impfbarrieren abgeschafft würden. Wir als Pädiater dürfen die Eltern wegen absurder Regelungen in manchen Kassenärztlichen Vereinigungen nicht überall mitimpfen – das muss sich ändern. Und auch die Fachgruppengrenzen müssen weg: Ein Arzt, der approbiert ist, muss in der Lage sein, zu impfen – egal, welchen Facharzttitel er trägt.“ Mit anderen Worten, so Fischbach: „Die Zäune müssen weg.“
„Aufsuchende Impfangebote“
Klaus Schlüter von MSD setzt ähnlich wie Fischbach auf Angebote direkt an den Schulen: „Es müssen flächendeckend aufsuchende Impfangebote erarbeitet werden“ – so zeige ein Angebot aus dem Rhein-Neckar-Kreis, „was erreicht werden kann, wenn Ärzte Eltern und Schüler ansprechen, aufklären und auch impfen können.“ Bei älteren Menschen gehe es unter anderem darum, die Gesundheitsförderung in Betrieben und Unternehmen zu verbessern – auch dort sollte es Aufklärungs- und Impfangebote geben.
Solche Angebote sind umso wichtiger, weil verschiedene Untersuchungen nahelegen: Die meisten Menschen boykottieren Impfungen nicht, sondern sie denken einfach nicht dran. So ergab eine bundesweite Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA): 77 Prozent der Befragten halten die Masernimpfung für wichtig. Prof. Lothar H. Wieler, Präsident des RKI, hält deshalb „Erinnerungssysteme“ für ein „probates Mittel, um Impfquoten zu erhöhen.“ In einem Gastbeitrag für die Ärztezeitung schrieb Wieler weiter: „Die 2016 eingeführte verpflichtende Impfberatung vor dem Besuch einer Kindertagesstätte und die Impfstatuskontrolle bei den regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen im Kindesalter wie auch die J1-Untersuchung im Jugendalter sind hier wichtige Bausteine.“
Wie BVKJ-Präsident Fischbach plädiert auch Wieler dafür, dass Kinderärzte die anwesenden Eltern ebenfalls impfen dürfen. Wenn hier bürokratische Hindernisse beseitigt würden und motivierte Ärzte sich regelmäßig nach dem Impfpass ihrer Patienten erkundigten, dann gäbe es nach Wielers Überzeugung „noch eine Menge Luft nach oben, bevor die drastische Maßnahme einer Impfpflicht in Erwägung gezogen werden sollte.“ Wielers Resumée: „Mit stärkerem Willen und mehr Engagement sowie dem Abbau unnötiger Hindernisse sind ausreichende Impfquoten zu erreichen.“