Die NASA hatte in den 60er-Jahren für ihre Flüge zum Mond weniger Rechenleistung zur Verfügung als heutzutage ein Smartphone-Benutzer auf der Suche nach dem nächstgelegenen Restaurant. Der Apollo Guidance Computer zur Steuerung von Neil Armstrong und Kollegen verfügte über einen Arbeitsspeicher von rund vier Kilobyte. Ein modernes Handy kommt gut und gerne auf vier Gigabyte. Das hat die Verfügbarkeit von Daten extrem erleichtert – im Internet gibt es nichts, was man nicht findet.
Das gilt auch für Gesundheitsinformationen und den legendären Dr. Google. Allerdings ist die schiere Masse von Informationen auch nicht immer hilfreich. Allein die Zahl der Gesundheitsapps dürfte die Zahl 300.000 längst übersteigen – von einfachen Lifestyle-Apps bis hin zu zertifizierten, evidenzbasierten digitalen Medizinprodukten ist alles dabei.
Digitaler Therapieassistent bei Depressionen
Wie sehr die klassische Medizin, Arzneimittel und digitale Gesundheitsanwendungen eine Symbiose eingehen können, zeigt dieses Beispiel: In Deutschland leiden rund sechs Millionen Menschen an einer Depression. Als Grundregel gilt, dass eine medikamentöse Therapie erfolgreicher ist, wenn sie mit einer geeigneten Psychotherapie kombiniert wird. Die nimmt aber nur jeder Zehnte in Anspruch, u.a. weil die Wartezeiten bis zu sechs Monate lang sein können. Das Unternehmen Servier, selbst auch Anbieter von Antidepressiva, vertreibt deshalb ein Online-Psychotherapieprogramm. „deprexis 24“ führt über einen Zeitraum von drei Monaten mit dem Anwender einen interaktiven Dialog. „Die antidepressive Wirksamkeit der Anwendung wurde in elf wissenschaftlichen Studien in Deutschland mit mehreren Tausend Patienten nachgewiesen. Dabei wird sowohl die Lebensqualität als auch die Leistungsfähigkeit verbessert“, sagt Oliver Kirst, Geschäftsleiter des Unternehmens Servier Deutschland. In einer Studie an einer Psychosomatischen Klinik kombinierten die Ärzte eine stationäre Psychotherapie mit der von dem Unternehmen zusammen mit Ärzten und Psychotherapeuten entwickelten Anwendung – und konnten feststellen, dass der antidepressive Effekt auch nach der Entlassung der Patienten bestehen blieb. Für Kirst ist das nur ein Beispiel dafür, dass digitale Gesundheitsprodukte bestehende Versorgungslücken schließen und zu einer effizienteren, oft sogar auch kostengünstigeren Gesundheitsversorgung in Deutschland beitragen können.
Weit mehr als ein Patiententagebuch: Haemoassist 2
Ein weiteres Beispiel, wo digitale Helfer die Versorgung von Patienten erheblich verbessern, ist „Haemoassist 2“, das vom Universitätsklinikum Bonn zusammen mit dem Unternehmen Pfizer und StatConsult konzipiert wurde. Haemoassist 2 erleichtert Hämophilie-Patienten und ihren Ärzten das Leben. Weil diesen Menschen ein Gerinnungsfaktor fehlt, der Blutungen nachhaltig zum Stillstand bringt, müssen sie diese Faktoren selbst zuführen – die Krankheit bleibt für sie eine lebenslange Herausforderung. Inzwischen ist sie aber gut behandelbar und dies gilt insbesondere seit Einführung der Heimselbstbehandlung, bei der die Patienten oder deren Angehörige nach einer Schulung die Gerinnungsfaktoren nach Vorgaben des Arztes selbst injizieren. Im Falle einer Blutung können die Patienten unmittelbar reagieren und müssen sich ansonsten nur zu regelmäßigen Kontrollen oder bei schweren Blutungen bei ihrem Arzt vorstellen.
Und hier spielt Haemoassist eine unterstützende Rolle: Die Anwendung ist nicht nur Patiententagebuch. Sie macht eine ärztlich kontrollierte Selbstbehandlung praktisch in Echtzeit möglich. Grafisch aufgearbeitet können Blutungsereignisse, Faktorvorgaben und sogar der Vorrat der Medikamente dargestellt werden. Auswertungs- und automatische Hinweisfunktionen geben die Möglichkeit, zeitnah Trends bei Blutungsereignissen zu erkennen und auf außergewöhnliche Ereignisse zu reagieren. Klingt alles kompliziert? An der Uni Bonn weiß man von einem 88-jährigen Patienten, der täglicher User der App ist. Er schickt mittlerweile regelmäßig Vorschläge zur Verbesserung der App. „Haemoassist 2 verbessert die Therapie, schafft mehr Lebensqualität und ist deshalb eine ideale Ergänzung zur medikamentösen Therapie. Die App trägt außerdem zur Patientensicherheit bei – etwa in dem sie warnt, wenn die Mindestvorratsmenge an Präparaten unterschritten wird“, fasst Dr. Tobias Lüke, leitender Mediziner im Bereich der seltenen Erkrankungen bei Pfizer die Vorteile zusammen.
Nur zwei Beispiele, die zeigen, wie sehr digitale Health-Anwendungen die medizinische Versorgung optimieren können – zumindest, wenn sie gemeinsam mit Ärzten und Patienten entwickelt und evaluiert werden. Die Frage, die sich jetzt stellt, ist: Was bedeutet diese Entwicklung im Bereich Digital Health für die politischen Rahmenbedingungen in einem Gesundheitssystem, das Arzneimittel bisher isoliert betrachtet und bewertet? Wenn es nach Oliver Kirst geht, müssen nun die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden, dass digitale Anwendungen in eine flächendeckende Regelversorgung integriert werden, sofern deren Wirksamkeit und Nutzen für die betroffenen Patienten belegt sind und die geforderte Datensicherheit gewährleistet ist.