Mediziner Dr. Ludwin Ley im Interview: Ein 60-jähriger Patient mit Typ-2-Diabetes verliert im Mittel sechs Lebensjahre. In Kombination mit einem Herzinfarkt sind es sogar zwölf. Foto: © iStock.com/Boarding1Now (Markus Mainka)
Mediziner Dr. Ludwin Ley im Interview: Ein 60-jähriger Patient mit Typ-2-Diabetes verliert im Mittel sechs Lebensjahre. In Kombination mit einem Herzinfarkt sind es sogar zwölf. Foto: © iStock.com/Boarding1Now (Markus Mainka)

Die Entdeckung der 19 „Diabetes-Gene”

Rund 285 Millionen Menschen sind weltweit an Typ-2-Diabetes erkrankt. Bis zum Jahr 2030, so schätzen Experten, wird diese Zahl auf rund 439 Millionen steigen, darunter werden auch mehr und mehr jüngere Menschen sein. Doch das europäische Forschungsprojekt IMIDIA („Innovative Medicines Initiative for Diabetes“) könnte dazu beitragen, den Trend zu immer mehr Diabeteserkrankungen zu stoppen.

Rund 100 Wissenschaftler aus zwölf akademischen Institutionen, einem Biotech- und zwölf Pharma-Unternehmen wie Sanofi suchten sechs Jahre lang nach neuen Ansatzpunkten im Kampf gegen Diabetes. Mit Erfolg: „Wir haben durch IMIDIA wesentliche neue Erkenntnisse zur Entstehung der Diabetes-Erkrankung gewonnen, um nur drei Highlights zu erwähnen, die uns neue Chancen eröffnen“, sagt Prof. Werner Kramer, IMIDIA-Projektkoordinator. 

  • Highlight 1: Schon ein Jahr nach dem Start von IMIDIA gelang es einem Forschungsteam, „die erste Generation von humanen Betazell-Linien zu validieren“, so Kramer. Die Betazellen der Bauchspeicheldrüse produzieren das Hormon Insulin, welches der Körper benötigt, um den Blutzuckerspiegel zu regulieren – bei Diabetikern ist die Funktion der Betazellen gestört, sie produzieren zu wenig oder gar kein Insulin mehr. Bislang experimentierten Forscher mit Betazell-Linien von Mäusen und Ratten, deren Eigenschaften sich aber stark von denen des Menschen unterscheiden. Den IMIDIA-Forschern aber ist es in einem komplizierten Verfahren gelungen, basierend auf menschlichem Pankreasgewebe eine Betazell-Linie zu entwickeln, die sich im Labor ebenso verhält wie im menschlichen Körper. Werner Kramer: „Mit dieser Zelllinie haben wir zum ersten Mal ein Werkzeug in der Hand, mit dem man gezielt nach Substanzen und Verfahren suchen kann, welche die bei der Diabetes-Erkrankung gestörte Funktion menschlicher Betazellen wieder herstellen können – ein wesentlicher Fortschritt für die Entwicklung neuer und wirksamer Medikamente zur Diabetes-Behandlung.“
  • Highlight 2: Die IMIDIA-Forscher fanden durch die Behandlung verschiedener Maus-Stämme durch eine fettreiche Diät – Übergewicht ist beim Menschen ein Haupt-Risikofaktor für die Entstehung von Diabetes – im Blut eine bestimmte Gruppe von Lipidmolekülen als Indikator für die spätere Entwicklung von Diabetes. Die gleichen Lipidmoleküle wurden auch im Blut von Menschen nachgewiesen. „Unsere Studien zeigten, dass die Blutspiegel dieser Lipidmoleküle bei Menschen, die später an Diabetes erkrankten, schon bis zu 9 Jahre vor dem Auftreten eines Typ-2-Diabetes erhöht waren“, so Prof. Kramer. „Es gibt also sehr frühe Marker, die darauf hinweisen, dass jemand ein sehr hohes Risiko hat, irgendwann an Typ-2-Diabetes zu erkranken.“ Diese Erkenntnis könnte dabei helfen, Präventionsmaßnahmen für solche Risikopatienten zu entwickeln.
  • Highlight 3: Die Wissenschaftler des IMIDIA-Konsortiums konnten 19 Gene in den Insulin-produzierenden Betazellen identifizieren, die in Diabetes-Patienten und Gesunden unterschiedlich exprimiert sind. „Diese Gene machen offensichtlich den Unterschied aus zwischen gesunden Menschen und an Typ-2-Diabetes erkrankten“, erklärt Kramer. Die Entdeckung stand am Ende einer sechsjährigen Forschungsarbeit, bei der es den beteiligten Wissenschaftlern gelungen ist, „die weltweit größte und am besten charakterisierte Datenbank von menschlichen Betazellen aufzubauen.“ Insgesamt wurden die Betazellen von rund 200 Diabetikern und 300 Nichtdiabetikern analysiert und miteinander verglichen. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Diabetologia veröffentlicht.

Grundstein zur Heilung?

Ist damit bereits ein Grundstein für ein Heilmittel oder eine Impfung gegen Diabetes gelegt? „Das ist zu früh“, entgegnet Werner Kramer, „ich glaube, hier muss man bescheidener sein. Denn Diabetes ist ein Kontinuum von ganz kleinen Sollwertverstellungen beim intermediären Stoffwechsel.“ Es gibt Veränderungen im Fettstoffwechsel, im Kohlenhydratstoffwechsel und im Energiestoffwechsel, die sich gegenseitig beeinflussen. „Die Orchestrierung verändert sich“, sagt Kramer, „irgendwo im Orchester gibt es einen Misston und am Schluss spielen alle ziemlich schräg.“ Es reicht dann nicht, den Geiger auszutauschen, der den ersten Misston verursacht hat – und ebenso wenig könne man schon von Heilung sprechen, wenn man einzelne Gene oder Proteine findet, die man beeinflussen kann. Viel wichtiger findet Kramer, „dass wir, was die Betazelle angeht, Methoden erarbeitet und validiert haben, die reproduzierbar sind und eine hohe Übertragbarkeit auf die Diabeteserkrankung des Menschen haben.“ IMIDIA hat eine Kenntnis-Plattform geschaffen, die sich für künftige Forschungen nutzen lässt.

Neben Prof. Kramer war auch Dr. Peter Hecht aus dem globalen Allianzmanagement Team von Sanofi am IMIDIA-Management beteiligt. Er gerät ins Schwärmen, wenn er an die jährlichen Treffen aller beteiligten Wissenschaftler denkt: „Forscher aus der Industrie und aus akademischen, klinischen Gruppen haben sich ausgetauscht und in einer Weise zusammengearbeitet, bei der wirklich viel herausgekommen ist. Denn wahrscheinlich sind Betazellen tatsächlich der Schlüssel, um in der Zukunft vollkommen neue Therapieansätze für Diabetes zu entwickeln.“

Kooperation kommt vor dem Wettbewerb

Hecht und Kramer wünschen sich beide, dass die Kooperation zwischen  Wissenschaftlern aus Industrie und akademischer Forschung in Sachen Diabetes weiterführt. „Es wäre wünschenswert“, so Kramer, „wenn man auf diesen komplexen Gebieten noch sehr viel stärker zusammenarbeiten würde.“ Denn noch handle es sich um „präkompetitive“ Forschung, bei der sich nur gemeinsam Fortschritte erzielen lassen. Erst in der letzten Phase würde dann jedes Unternehmen seine eigene Wirkstoffbibliothek auf geeignete Kandidaten durchforsten – in der Hoffnung, daraus ein Medikament zu entwickeln und den Patienten ein Heilmittel gegen Diabetes anbieten zu können.

Einstweilen aber geht es erst einmal darum, herauszufinden, welche exakte Rolle jedes der 19 „Diabetes-Gene“ bei der Entwicklung eines Typ-2-Diabetes spielt. Dieser Frage widmet sich in kommenden Jahren ein weiteres IMI-Projekt: RHAPSODY. Hier besteht das „ultimative Ziel“ dann tatsächlich darin, eine Verbesserung der Diabetesprävention und Behandlung zu erreichen. RHAPSODY soll in zwei Jahren, Ende März 2020, abgeschlossen sein.

Foto: istockphoto.com

Verwandte Nachrichten

Anmeldung: Abo des Pharma Fakten-Newsletters

Ich möchte per E-Mail News von Pharma Fakten erhalten: