Hört man sich in der Fachwelt um, sind die Perspektiven im Kampf gegen Krebs geradezu euphorisch, schlägt man aber die Zeitung auf, sind neue Krebsmedikamente erstens wenig wirksam und zweitens zu teuer. Was stimmt?
Prof. von Kalle: Ich glaube es gibt von Allem Alles, oder? Es gibt natürlich Medikamente, die bei bestimmten Erkrankungen weniger wirksam sind. Oder sagen wir mal: Unsere therapeutischen Möglichkeiten sind hier noch nicht so weit, wie wir sie gerne hätten. Und wir haben auf der anderen Seite Medikamente, die wirksam sind – gerade auch die in letzter Zeit dazugewonnenen – und die zum Teil, jedenfalls wenn sie patentgeschützt sind, ziemlich teuer sind. Ein Grund deshalb in Panik zu verfallen sehe ich allerdings nicht.
Begründen Sie das bitte.
von Kalle: Schauen Sie sich die verfügbaren Zahlen an: Wir geben ungefähr sechs Prozent unserer Gesundheitsausgaben für die gesamte Krebsbehandlung aus. Und davon wiederum sind ungefähr zehn Prozent die Ausgaben für Krebsmedikamente. Interessant ist dabei, dass diese Zahlen im Laufe der Zeit ziemlich stabil geblieben sind. Und das, obwohl wir mittlerweile durch die Alterung der Bevölkerung fast eine Verdoppelung der Fallzahlen haben und mehr verfügbare, patentgeschützte Medikamente. Trotzdem bricht immer ein Riesengeschrei aus, wenn ein Medikament auf den Markt kommt, das über 100.000 Euro kosten soll. Dann geht morgen das Gesundheitssystem unter, obwohl der Anteil der patentgeschützten Krebsmedikamente, gemessen an den Gesamtaufwendungen des Gesundheitssystems, bei rund ein Prozent oder weniger liegt. Ich halte die Diskussion an manchen Stellen für reichlich überzogen. Leider haben wir in Deutschland sehr wenig öffentliche Aufmerksamkeit für die Tatsache, dass sich die Therapien deutlich verbessert haben. Das wird in der Diskussion meiner Ansicht nach verschüttet und das finde ich schade.
Krebs als zweithäufigste Todesursache; angesichts Ihrer Zahlen drängt sich die Frage auf: Tun wir nicht eigentlich viel zu wenig?
von Kalle: Ja, genau. Das ist eigentlich meine Aussage. Ich finde, wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, ob wir nicht insgesamt zu wenig tun – z.B. auch im Bereich der klinischen Forschung. Was lernen wir z.B. aus den Fällen, die wir in Deutschland behandeln?
Wir brauchen also mehr klinische Forschung?
von Kalle: Für uns Wissenschaftler und Ärzte ist das ein großes Thema, weil wir einfach im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern und vor allem auch zu den USA im Moment keinen systematischen Ansatz der öffentlichen Förderung von klinischer Forschung haben – von einigen lobenswerten Projekten einmal abgesehen. Aber das ist der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein – vor allem, wenn Sie sich anschauen, was die Franzosen, Engländer, die Amerikaner und Chinesen in diese Richtung unternehmen. Die haben längst begriffen, dass nicht nur Chemie und Fahrzeugbau, sondern auch Pharmazie ein Wirtschaftsfaktor ist. Warum wir das in Deutschland nicht tun, ist nicht nachvollziehbar. Für mich ist die Frage: Wollen wir uns das wirklich komplett aus der Hand nehmen lassen, um dann in Zukunft abhängig zu sein von Asien oder Amerika?
Aber was klinische Medikamentenstudien angeht, ist Deutschland doch nach den USA weltweit führend?
von Kalle: Für die industrieunterstützten Studien stimmt das auch. Aber ich spreche hier von dem akademischen Bereich, der in Deutschland selbst mit den sehr beschränkten Mitteln, die er hat, sehr aktiv ist. Aber wenn es dann mal kostenintensiver wird – gerade was die Entwicklung neuer Therapeutika angeht – dann wird es schnell sehr schwierig.
Was ist Ihre konkrete Forderung in Sachen Forschungsförderung?
von Kalle: Wir brauchen einen systematischen Ansatz, der klinische Forschung und Versorgung in Deutschland miteinander kombiniert. Wir haben zum Beispiel keine Studien, die Kombinationen von Medikamenten verschiedener Hersteller betreffen. Oder die auch mal auf ein Einsparpotential oder auf eine Indikationsreduktion hinarbeiten. Es gibt natürlich Fragestellungen, wo herstellergetriebene und akademische Interessen nicht unbedingt im Einklang stehen müssen.
Sehen Sie die herstellergetriebene Forschung als ein Problem?
von Kalle: Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil: Wir sehen ja nicht nur in der Medikamentenentwicklung, sondern z.B. auch in der Medizintechnik einen Fortschritt, der ausschließlich im kommerziellen Raum entsteht. Rein staatlich organisierte Systeme entwickeln solch neue Technologien in aller Regel nicht und sie stehen deshalb diesen Patienten nicht zur Verfügung. Außerdem sehen wir im Bereich der pharmaunterstützten Studien in den vergangenen zehn Jahren auch eine Verwissenschaftlichung des Vorgehens, was gut ist. Man muss klar anerkennen, dass das, was wir als therapeutisches Portfolio zur Verfügung haben, in weiten Zügen von einer kommerziellen Industrie entwickelt worden ist und geliefert wird. Wenn Sie niemanden finden, der auch ein wirtschaftliches Interesse daran hat, ein Medikament auf den Markt zu bringen, dann wissen wir aus der Vergangenheit: Der Patient wird dieses Medikament nie sehen. Vieles von dem, was wir zum Beispiel im Bereich der Immunkrebstherapie heute als Fortschritt erleben; wenn Sie sich anschauen, dass mittlerweile die Hälfte der Lungenkrebspatienten davon wirklich profitieren – dann muss man einfach sagen: Das hätte es ohne die Industrie nie gegeben. Das ist einfach so.