Herr Professor Schlander, der europäische Durchschnittswert eines statistisch gewonnenen Lebensjahres liegt bei 158.448 Euro. Wie sind Sie auf diese Zahl gekommen?
Prof. Dr. Michael Schlander: Wir haben die ökonomischen Studien der letzten 20 Jahre ausgewertet, die aufgrund eigener empirischer Erhebung den Wert eines statistischen Lebens berechnet haben. Daraus haben wir dann den Wert eines statistischen Lebensjahres abgeleitet.
Wie viele Studien waren das und worum ging es dabei?
Schlander: Wir haben weltweit 120 Studien identifiziert. Im Prinzip gab es dabei zwei Typen von Studien. Die einen beschäftigten sich mit den in Experimenten messbaren Präferenzen von Menschen. Ein Beispiel: Wieviel Geld sind Konsumenten bereit, für Sicherheitsgurte oder andere Schutzmaßnahmen auszugeben, wenn sie wissen, dass sich dadurch das Risiko für tödliche Unfälle um einen bestimmten Prozentsatz reduziert? Aus solchen Angaben kann man dann den Wert ableiten, den jemand seinem Leben zumisst.
Und die zweite Art von Studien?
Schlander: Der zweite verbreitete Ansatz ist, aus dem beobachtbaren tatsächlichen Verhalten von Menschen Schlüsse zu ziehen. Dabei handelt es sich überwiegend um so genannte Job-Risk-Studien. Dann werden ähnliche Berufe verglichen, die aber unterschiedliche Gesundheitsrisiken aufweisen – also etwa ein Elektriker mit einem Starkstromelektriker. Die entscheidende Frage dabei lautet: Wieviel Risikozuschlag bekommt derjenige ausgezahlt, der ein höheres Unfallrisiko in Kauf nimmt? Auch diese Angaben kann ich am Ende umrechnen in den impliziten Wert eines statistischen Lebensjahres.
Wie hoch liegt der Wert in Deutschland?
Schlander: Wir haben in Deutschland nur eine sehr kleine Anzahl solcher Studien, weshalb eine gewisse Vorsicht geboten ist. Grob gesprochen kann man aber sagen: Deutschland bewegt sich den vorliegenden Daten zufolge knapp oberhalb des europäischen Mittelfeldes, also bei rund 170.000 Euro pro gewonnenem Lebensjahr.
Was war der Anlass für Ihre Analyse und welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus den Ergebnissen?
Schlander: Wir wollten europäische Daten mit dem vergleichen, was in den USA publiziert wurde – dort gibt es deutlich mehr Studien, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Wir haben deshalb zunächst geschaut, welche Studiendaten es in Europa gibt und haben mit der europäischen Analyse angefangen. Danach folgte eine weltweite Analyse, bei der wir systematisch europäische und nordamerikanische Werte vergleichen konnten. Was die Schlussfolgerungen angeht, so scheint es ratsam, allzu sehr vereinfachende Aussagen zu vermeiden – denn diese 120 Studien haben sich stark unterschieden im Hinblick auf die Methodik, die Regionen und die Populationen.
Aber es gab deutliche Unterschiede zwischen Europäern und Amerikanern.
Schlander: Ja, in absoluten Zahlen sind die Unterschiede wirklich gewaltig: In den USA liegt der Mittelwert eines statistischen Lebensjahres bei 271.000 Euro, in Europa bei wenig mehr als 158.000 Euro, in Asien dagegen bei 43.000 Euro. Wenn man die Zahlen allerdings auf das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bezieht, dann schrumpft dieser Unterschied deutlich zusammen. Dann sind wir bei einem 5,1-fachen BIP pro Kopf in Europa und bei einem knapp siebenfachen BIP pro Kopf in den USA und Kanada. Das ist immer noch ein signifikanter Unterschied, auch wenn überall auf der Welt gilt: Ein Individuum und auch die Gesellschaft können nur das ausgeben, was vorher erwirtschaftet wurde. Es ist aber wohl so, dass, je höher die wirtschaftliche Leistungskraft ist, desto höher ist auch die Zahlungsbereitschaft für die eigene Gesundheit.
Aber viele Amerikaner sind keineswegs reicher als die Menschen in wohlhabenden europäischen Ländern. Weshalb sind sie trotzdem bereit, mehr für ein gewonnenes Lebensjahr auszugeben?
Schlander: Darüber lässt sich trefflich spekulieren. Vermutlich gibt es Unterschiede in der Mentalität. Wir kennen aber noch einen zweiten Zusammenhang, nämlich die so genannte Einkommenselastizität der Gesundheitsausgaben. Sie bewegt sich statistisch bei einem Wert von 1,4. Mit anderen Worten: Wenn eine Gesellschaft pro Kopf 10 Prozent mehr BIP erwirtschaftet, dann gibt sie 14 Prozent mehr für Gesundheit aus. Das ist im Ländervergleich ein sehr stabiler Zusammenhang, den wir seit drei Jahrzehnten kennen.
Welche Konsequenzen sollten die Entscheidungsträger im Gesundheitswesen aus Ihrer Analyse ziehen?
Schlander: Die Analyse sagt zunächst einmal, dass die Menschen offensichtlich ein Lebensjahr höher bewerten als das in jenen Ländern als Wert angenommen wird, die ein Kosten-Nutzen-Kalkül vornehmen. Das ist zum Beispiel in England der Fall, wo 30.000 Pfund, umgerechnet knapp 34.000 Euro, pro gewonnenem Lebensjahr angesetzt werden. In den Niederlanden sind es 50.000 Euro. Die WHO empfiehlt, einen Wert bis zum dreifachen BIP pro Kopf anzusetzen, was schon mehr wäre als in England und den Niederlanden. Offenkundig bewerten die Menschen ihr Leben im Durchschnitt deutlich höher, als wir es in der Regulierung der Gesundheitssysteme momentan anwenden.
Gilt das auch für Deutschland?
Schlander: Nein, denn hier wird eine solche Bewertung – jedenfalls bisher – nicht vorgenommen. Aber in den Ländern, in denen man die Kosten pro gewonnenem Lebensjahr berechnet, scheint es tatsächlich so zu sein, dass die Werte vergleichsweise niedrig angesetzt sind.
Halten Sie es überhaupt für sinnvoll, eine Kosten-Nutzen-Bewertung pro gewonnenem Lebensjahr vorzunehmen?
Schlander: Es wäre dann sinnvoll, wenn es tatsächlich genau einen objektiven Wert für ein statistisches Leben gäbe. Aber dagegen spricht eine umfangreiche Literatur, die in ihrer Summe eindrucksvoll belegt, dass es zahlreiche weitere Faktoren gibt, die man nicht einfach ignorieren sollte. Zum Beispiel: Wollen wir bei Jüngeren eine höhere Bewertung vornehmen als bei Älteren? Wollen wir schwere Erkrankungen stärker gewichten als leichtere Störungen? Und wie sieht es mit dem Kosten-Nutzen-Kalkül bei seltenen Erkrankungen aus? Für solche Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Und das bedeutet, dass man besser nicht mit einem einheitlichen Wert für ein statistisches Lebensjahr operieren sollte. Aber das ist meine Sicht, es gibt durchaus auch Gesundheitsökonomen, die das anders sehen.