Zahlen kann man so oder so interpretieren. Ein Plus von 3,7 Prozent finden die Autoren des AVR „deutlich“; auch das Wort „happig“ fiel. Gemessen am Wachstum des nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) – es lag im Jahr 2017 3,8 Prozent höher als im Vorjahr – liegt es im Rahmen. Auch gemessen am Anstieg der Gesamtausgaben der GKV (2017: + 3,5 %) sind die Ausgabensteigerungen vor allem eines: moderat. Der AVR wird jedes Jahr von dem Wissenschaftlichen Institut der AOK und der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft veröffentlicht. Genauso häufig gibt es Streit über die Interpretation der Zahlen.
Als Hauptverursacher für die Kostensteigerungen sehen die AVR-Autoren die patentgeschützten Arzneimittel. Ihr Anteil an den GKV-Arzneimittelausgaben lag im vergangenen Jahr bei 45 Prozent – im Vergleich zum Vorjahr ein Plus von lediglich einem Prozentpunkt (2016: 44 %). Schaut man sich die vergangenen zehn Jahre an, dann liegt ihr Anteil durchschnittlich bei 45,5 Prozent. Heißt: er ist nahezu konstant. Heißt auch: Wenn die Kostensteigerungen bei patentgeschützten Medikamenten „Hauptverursacher“ sein sollen, müsste dann nicht auch ihr Anteil an den Kosten deutlich steigen?
Innovationen kosten, verbessern aber die Behandlungsmöglichkeiten
Beklagt wird von den Autoren, dass die Preise der Neueinführungen deutlich steigen. Dies ist aber auch Ausdruck einer sich verändernden Wissenschaft. Unter anderem durch die Erkenntnisse der Genomforschung lassen sich heute Medikamente viel spezifischer entwickeln. Das zeigt das Beispiel Blutkrebs: Vor 60 Jahren fassten es Ärzte noch grob unter dem Begriff „Erkrankung des Blutes“ zusammen. Heute kennt man rund 40 unterschiedliche Leukämie- und rund 50 Lymphomtypen. Sie fordern individuelle Therapieansätze ein, wenn sie möglichst spezifisch und damit effektiver wirken sollen. Der Effekt für die forschenden Unternehmen ist, dass die Patientengruppen immer kleiner werden. Wenn aber Forschungskosten ansteigen und gleichzeitig das Umsatzpotenzial einzelner, hochspezifischer Medikamente sinkt, dann hat das Auswirkungen auf den Preis. Das gilt insbesondere für Medikamente gegen seltene Erkrankungen, die heute einen hohen Anteil der Neuzulassungen ausmachen. Natürlich sorgt das für höhere Verordnungskosten pro Medikament.
Die Frage ist auch, inwieweit die Betrachtung des Arzneimittelmarktes vorrangig unter Kostengesichtspunkten überhaupt Sinn macht – und wie Patienten-orientiert sie ist. Dazu erklärte die Hauptgeschäftsführerin des Verbandes der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa): „Die Zahl tödlicher Herzattacken und Schlaganfälle in Deutschland sinkt seit Jahren. Das ist nur ein Beispiel von vielen wie Arzneimittel Leben retten. Dabei bleibt bessere Medizin bezahlbar: Angesichts rasant voranschreitender neuer Therapiemöglichkeiten – wie bei Infektionskrankheiten und Krebs – bleiben die Arzneimittelausgaben maßvoll. Neue, maßgeschneiderte Therapien ermöglichen den zielgenauen Einsatz von Medikamenten. Davon profitieren Patienten und Krankenkassen.”
Arzneimittelausgaben der GKV: nur 1/5 der Gesamtausgaben
Die Arzneimittelausgaben, so der vfa weiter, machten weniger als ein Fünftel der gesamten Kassenausgaben aus. Zudem seien die Arzneimittel im Vergleich zu anderen Leistungsbereichen der GKV seit Jahren das Segment mit den niedrigsten Ausgabenzuwächsen (durchschnittlich 3,4 %).
Ein Dorn im Auge sind den AVR-Autoren die steigenden Ausgaben für die so genannten Orphan Drugs (OD), den Medikamenten gegen seltene Erkrankungen. Dass deren Umsätze seit Jahren zunehmen, ist bei genauer Betrachtung überraschungsarm. Es liegt daran, dass – auch dank einer EU-Verordnung – die Zahl der Medikamente ständig zunimmt. Es ist Ausdruck des politischen und gesellschaftlichen Willens, Menschen mit seltenen Erkrankungen therapeutische Möglichkeiten zu schaffen. Und auch hier gilt die einfache Rechnung: Mehr Medikamente führen in der Regel zu höheren Umsätzen. Der bei dieser Veranstaltung immer wieder vorgetragene Vorwurf, Pharmaunternehmen würden sich Patientenzahlen klein rechnen, um in den Genuss entsprechender Fördermechanismen zu kommen, bleibt auch im Jahr 2018 ein Märchen – wie viele Märchen wird es aber gerne weitergetragen. Der Vorwurf bleibt auch in diesem Jahr falsch – vor allem auch deshalb, weil nicht die Pharmaunternehmen über den Status eines Medikamentes entscheiden, sondern die europäische Zulassungsbehörde EMA. Und die erlaubt es nicht.
Auch vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) hagelt es Kritik: „Die Zahlen des aktuellen AVR belegen: Auch 2017 lieferte die pharmazeutische Industrie die Fertigarzneimittel der ambulanten Versorgung für gerade einmal rund acht Prozent der Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)“, sagt der stellvertretende Hauptgeschäftsführer Norbert Gerbsch. „Dieser Anteil ist im Vergleich zu den Vorjahren unverändert. Das ist kein hoher Anteil – schon gar nicht gemessen am therapeutischen Stellenwert der Arzneimittel in der Versorgung. Damit ist erneut klar, dass die Arzneimittelausgaben kein Risikofaktor für die Finanzierung der GKV sind. Und auch nie waren, wie die Reporte der Vorjahre zeigten.“ Er verweist auf eine kürzlich veröffentlichte Studie, die sich die zu erwartenden Ausgabensteigerungen für Arzneimittel in den Ländern Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien und dem Vereinigten Königreich bis zum Jahr 2021 angeschaut hat und zu dem Ergebnis kommt, dass diese nur moderat steigen werden. Gerbsch: „Das sollte Politiker aufhorchen lassen.“ Dafür verschweige der Report die von den Kassen forcierte Kostendämpfung, die die pharmazeutische Industrie am Standort Deutschland massiv unter Druck setzt. „Preisdumping und Marktkonzentration in der Generikaversorgung, ein Preismoratorium, das Weiterentwicklungen von Arzneimitteln die wirtschaftliche Basis nimmt und ein AMNOG-Verfahren, das Innovationen eher behindert als fördert, sind nur einige Konsequenzen des Sparens.“ Und er erinnert daran, dass die gesetzlichen Krankenkassen auf Milliardenüberschüssen sitzen. Kassen und Gesundheitsfonds kommen zusammen auf Rücklagen von fast 30 Milliarden Euro. Tendenz: nach oben.