Es sind 90.
90 Menschen versterben jeden Tag in einem der dreißig Länder der Europäischen Union (EU) bzw. des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) in Folge einer multiresistenten bakteriellen Infektion. Das geht aus einer Hochrechnung hervor, die Wissenschaftler im Auftrag des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) durchgeführt haben und die im renommierten Fachblatt „The Lancet“ veröffentlich worden ist. Insgesamt sind es demnach 33.110 Menschen pro Jahr – und damit mehr als diejenigen, die in Europa an den Folgen von Influenza, Tuberkulose und HIV/AIDS zusammen sterben.
Antibiotika-Resistenzen sind zunächst einmal ein ganz natürliches biologisches Phänomen, das aus der Fähigkeit von Bakterien entsteht, einen Angriff durch diese Medikamente abzuwehren. Das kann z. B. durch eine Mutation möglich werden (s. Grafik). Resistenzen sind ein biologisches Faktum, vor dem schon Alexander Fleming, einer der Väter des Penicillins, gewarnt hatte. In der Rede, die er 1945 anlässlich der Verleihung des Nobelpreises hielt, erklärte er: „Die Zeit wird kommen, in der Penicillin von jedermann in Geschäften gekauft werden kann. Dadurch besteht die Gefahr, dass der Unwissende das Penicillin in zu niedrigen Dosen verwendet. Indem er die Mikroben nun nicht-tödlichen Mengen aussetzt, macht er sie resistent.“ Und auch wenn Antibiotika in den meisten Ländern verschreibungspflichtig sind, ist es trotzdem nicht gelungen, diese Medikamentenklasse vor Missbrauch zu schützen. Dabei sind sie seit ihrer Entdeckung vor über 70 Jahren „unsere wichtigste Waffe bei der Behandlung bakterieller Infektionen, einschließlich lebensbedrohlicher Krankenhausinfektionen“, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schreibt. Eine Waffe, die durch Missbrauch ihre Wirksamkeit verliert.
Antibiotika-Resistenz: Viele Tote können vermieden werden
„Superbugs“, also Keime, gegen die nichts mehr hilft, könnten zwischen den Jahren 2015 und 2050 in Europa, Nord-Amerika und Australien bis zu 2,4 Millionen Menschen töten, wenn nicht mehr getan wird, schreibt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihrem Report: „Stemming the Superbug Tide. Just a Few Dollars more.“ Besonders betroffen werden demnach vor allem südliche Länder wie Italien, Griechenland und Portugal sein: In Italien rechnet die OECD im Prognosezeitraum mit einer Sterblichkeitsrate von 18,17 pro 100.000 Menschen – in Deutschland sollen es rund 2,64 pro 100.000 sein. Drei von vier Tote könnten wohl vermieden werden – einfach durch simple Hygienemaßnahmen wie Händewaschen oder den behutsameren Einsatz von Antibiotika, heißt es dort. Es wäre ein Investment von rund zwei US-Dollar pro Person, schreibt die OECD. Passiert nichts oder zu wenig, rechnet die Organisation mit milliardenschweren Belastungen für die Gesundheitssysteme.
Dass die Welt nicht ins Vor-Penicillin-Zeitalter zurückfällt – dazu kann jeder seinen Beitrag leisten. Die WHO zählt in einem Faktenblatt „Informationen für alle Bürger“ auf:
- Kaufen Sie nie Antibiotika ohne ärztliche Verschreibung – z.B. in Urlaubsländern, wo das möglich ist.
- Verlangen Sie vom Arzt nicht bei jeder Infektion ein Antibiotikum. Viele Atemwegsinfektionen wie Erkältungen und Grippe werden von Viren verursacht. Antibiotika können nur bakterielle Infektionen heilen. Wenn sie also nicht zur Heilung Ihrer Krankheit beitragen, brauchen Sie sie nicht; möglicherweise machen sie Sie sogar anfälliger für künftige Infektionen.
- Wenn Ihnen Antibiotika verschrieben werden, halten Sie sich genau an die Anweisungen des Arztes oder Apothekers. Führen Sie die verschriebene Behandlung auch dann bis zum Ende durch, wenn Sie sich bereits besser fühlen. Anderenfalls kann die Infektion erneut auftreten.
- Nehmen Sie kein Medikament ein, das einer anderen Person oder aufgrund einer anderen Diagnose verschrieben wurde.
- Schützen Sie sich vor Infektionen. Waschen Sie Ihre Hände regelmäßig und fordern Sie auch Ihre Familie und Ihre Kollegen dazu auf.
- Eine andere wichtige Maßnahme ist die Vorbeugung gegen bestimmte bakterielle Infektionen durch Impfung. Landwirte sollten ihren Tieren nur bei Verschreibung Antibiotika verabreichen, nicht aber zur Wachstumsförderung, da sich dadurch bakterielle Resistenzen bilden können.
Ist ein Keim erst multiresistent, helfen nur: neue Medikamente. Der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) weist darauf hin, dass sich die Zahl der neu zugelassenen Medikamente und derer, die sich in der Entwicklung befinden, in den vergangenen Jahren wieder erhöht hat. „Demnach könnten Unternehmen in den nächsten Monaten zwei neue Antibiotika herausbringen, die jeweils Resistenzen bei bestimmten Bakterien überwinden. Eins davon hat im Oktober die EU-Zulassung, das andere im September eine Zulassungsempfehlung erhalten. Drei weitere Antibiotika befinden sich im Zulassungsverfahren.“ Weitere 19 antibakterielle Medikamente seien derzeit in der letzten Studienphase vor dem Zulassungsantrag (s. die Liste des vfa).
Der vfa macht allerdings darauf aufmerksam, dass damit nicht jede therapeutische Lücke, die durch Resistenzen entstanden ist, geschlossen werden könne. Birgit Fischer, Hauptgeschäftsführerin des vfa, sagt deshalb: „Die Anstrengungen zur Entwicklung neuer Antibiotika müssen gesteigert werden, damit die Medizin dauerhaft Resistenzen begegnen kann. Doch für viele denkbare Antibiotika-Projekte ist ungeklärt, wie Unternehmen sie refinanzieren könnten; die resultierenden Produkte sollen ja später so selten wie möglich zum Einsatz kommen. Neue Finanzierungsmodelle werden gebraucht.“ Sie spielt damit auf die Strategie an, so genannte Reserve-Antibiotika zu entwickeln, die nur als letzte Option zum Einsatz kommen sollen; sprich: wenn alle Alternativen versagt haben.
Deshalb betont Fischer: „Äußerst wichtig ist, mit den vorhandenen Antibiotika verantwortungsvoll umzugehen. „Denn für kein Geld der Welt lassen sich so schnell neue Antibiotika entwickeln, wie die Vorhandenen durch fahrlässigen Gebrauch und daraus resultierende Resistenzbildung unwirksam werden können.“