Seine Fans haben ihn nicht vergessen: Wenn der Stadionsprecher bei den Heimspielen des VfL Wolfsburg die Mannschaftsaufstellung durchs Stadion ruft, ist ein Name immer dabei: „Unsere Nummer 10 im Herzen: Krzysztoooof…“ – und zehntausende brüllen: „Nowak!“ Ihr Mittelfeldspieler musste mit 25 Jahren seine Karriere beenden. Die Diagnose: Amyotrophe Lateralsklerose; kurz: ALS. Nowak verstarb 2005; seine Krzysztof-Nowak-Stiftung will Menschen mit ALS helfen. Schicksale wie dieses haben diese sehr seltene Erkrankung bekannt gemacht.
Auch der Astrophysiker Stephen Hawkings war ein berühmter, allerdings kein typischer ALS-Patient, denn er lebte nach der Diagnose noch mehr als 50 Jahre: „Statistisch gesehen beträgt die Überlebenszeit der ALS-Patienten nach Diagnosestellung drei Jahre. Bei ca. zehn Prozent der Erkrankten verlängert sich diese Zeit auf mehr als fünf, und bei fünf Prozent auf mehr als zehn Jahre“, heißt es auf der Webseite lateralsklerose.info. Einen Hype um die Erkrankung verursachte auch die Ice Bucket Challenge. Bei der Idee, sich Eiswasser über den Kopf zu gießen, weitere zu nominieren, die einem das nachtun sollten, sowie einer Spende an die ALS Association, kamen sechsstellige Summen zusammen.
ALS: Mehr als 55 Wirkstoffkandidaten in der Pipeline
ALS ist eine fortschreitende, neurogenerative Erkrankung, die Nervenzellen und Signalwege in Gehirn und Rückenmark angreift. Wenn diese Zellen sterben, stirbt die Kontrolle der Muskeln mit ihnen. Es kommt zu Muskelschwund und
-lähmungen, Gang-, Sprech- und Schluckstörungen, Atemnot. Sie ist bis heute unheilbar. Die komplexe genetische Natur der Krankheit und die Tatsache, dass ihre Entstehung nur unzureichend geklärt ist, hat die Suche nach erfolgversprechenden Forschungsstrategien in den vergangenen Jahren nicht erleichtert. Aber die ALS-Forschung hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht: Der Bericht des Beratungsunternehmens IQVIA „Understanding Neuromuscular Disease Care“ zählt mehr als 55 Wirkstoffkandidaten auf, die gegen ALS entwickelt werden. In keinem Indikationsgebiet der Gruppe der neuromuskulären Erkrankungen wird zurzeit mehr investiert. Es ist eine Forschung, die alle angeht, denn ALS kann jeden treffen.
Unter neuromuskulären Erkrankungen ist eine Reihe von Erkrankungen zusammengefasst, die die Muskelzellen und die neuromuskuläre Übertragung betreffen. Auslöser ist in der Regel ein Gendefekt, der zum Absterben von Muskelzellen oder der Nervenzellen führt. Auch eine Störung bei der Übertragung von Nervenimpulsen zu den Muskeln kann Auslöser sein. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird von Muskelschwunderkrankungen gesprochen, von denen es je nach Klassifikation 600 bis 800 verschiedene Formen gibt.
Gemeinsam haben sie, dass sie sehr komplex und schlecht zu behandeln sind. Die Heterogenität der Krankheitsbilder, die Tatsache, dass sie meist sehr selten sind, die Vielschichtigkeit der Symptome und der Umstand, dass die Entstehungsprozesse bei vielen dieser Erkrankungen noch nicht ausreichend verstanden sind, machen nicht nur die Diagnose schwierig. Dies ist bisher auch Hemmschuh für die Entwicklung neuer Therapien gewesen. Aber das scheint sich Stück für Stück zu ändern.
Neuromuskuläre Erkrankungen: Fast 200 Wirkstoffkandidaten in der Entwicklung
Mehr als 195 neue Moleküle, erforscht von 165 Unternehmen in 20 Ländern – so lässt sich der IQVIA-Bericht knapp zusammenfassen. Die Kombination aus dem besseren Verständnis der genetischen Grundlagen dieser Krankheiten und dem technologischen Fortschritt haben eine ganze Reihe verschiedener Ansätze hervorgebracht, von denen Patienten in den kommenden Jahren profitieren sollen:
- Fast die Hälfte der Wirkstoffkandidaten (43%) sind so genannte Small Molecules, also niedermolekulare Verbindungen: Sie sind durch ihre geringe Größe in der Lage, in kleinste Körperstrukturen wie Zellen einzudringen, um dort ihre Wirkung zu entfalten. Die meisten heute zugelassenen Medikamente sind Small Molecules.
- Ein immer größerer Teil der neuromuskulären Pipeline sind Gentherapien, deren Ziel der Ersatz von geschädigten oder mutierten Genen und ihrer nicht-funktionalen Proteine ist. Die Idee: Sie sollen als „Reparaturbetrieb“ fungieren.
- Rund 14 Prozent der Kandidaten sind Proteine oder Peptid-Moleküle. Sie zielen darauf ab, die „richtigen“ Proteine zu ersetzen, die durch die geschädigten Gene gar nicht oder in nicht ausreichendem Maße zur Verfügung gestellt werden.
- Fast jeder zehnte Wirkstoffkandidat (9%) ist aus der Klasse der Antisense-Oligonukleotide. Sie blockieren das Splicing und/oder die Übersetzung von Nukleotiden, um Proteine herzustellen. Das hat das Ziel, entweder den Grad beschädigter oder nicht-funktionaler Proteine zu reduzieren oder aber diese so zu verändern, dass sie als Ersatz für mutierte Proteine einspringen können.
Alles nur Zukunftsmusik? Die ersten Ergebnisse dieser komplexen Arzneimittelforschung kommen bereits bei den Patienten an. Ein Antisense-Oligonukleotid hat im Jahr 2016 die Behandlung der Spinalen Muskelatrophie (SMA) auf den Kopf gestellt. Die SMA ist die häufigste genetisch bedingte Todesursache bei Kleinkindern und Säuglingen. Mit dem neuen Medikament lässt sich die Krankheit nun erstmals behandeln – und nicht nur die Symptome. In den 1990er Jahren hat man die genetische Ursache von SMA entdeckt. Dass es bis ins Jahr 2016 gedauert hat, ein Medikament zu entwickeln, mag ein Hinweis sein, wie herausfordernd die Forschung ist. Und plötzlich geht alles ganz schnell: 15 Wirkstoffkandidaten zählt der IQVIA-Bericht auf – bereits im kommenden Jahr (2019) soll eine neuartige Gentherapie zugelassen werden, die nur einmal verabreicht werden muss. Sie soll die Behandlung der Krankheit weiter verbessern.
In den vergangenen fünf Jahren hat sich im Bereich der Forschung und Entwicklung neuromuskulärer Erkrankungen sehr viel getan, schreibt IQVIA. Die Zahl der in der klinischen Entwicklung befindlichen Moleküle hat sich verfünffacht. „Wir beginnen gerade erst damit, die genetischen Veränderungen von neuromuskulären Erkrankungen zu verstehen“, kommentiert Dr. Louis Kunkel, Professor an der Harvard Medical School. Die damit verbundene Hoffnung: Dass dieses Verständnis – ähnlich wie bei der SMA – zu krankheitsmodifizierenden Therapien führt, die das Leben der betroffenen Menschen deutlich verbessern.