So war das bisher: Die wissenschaftliche Welt war sich einig, dass die Lage des Tumors diesen am klarsten definiert. Brustkrebs ist Brustkrebs und Schilddrüsenkrebs ist Schilddrüsenkrebs. Entsprechend richtete man die Therapiestrategie aus. Dieses Onkologen-Mantra wurde auf den Prüfstand gestellt, als man herausfand, dass es bestimmte onkogene Treiber, Mutationen in den Tumorzellen gibt – z.B. Genfusionen. Diese entstehen, wenn während der Zellteilung bestimmte Gene mit anderen Genen fusionieren und dadurch Signalwege aktiviert werden, die in ganz unterschiedlichen Organen das Wachstum von Tumoren anregen können.
Als ein Beispiel solcher molekulargenetischer Tumorerkrankungen gelten die so genannten Tropomyosin-Rezeptor-Kinase-Fusionstumore; kurz: TRK-Fusionstumore. Sie können überall im Körper auftreten. NTRK-Genfusionen – das sind Fusionen, die neurotrophe Tyrosin-Rezeptor-Kinase-Gene mit anderen Genen eingehen – wurden bereits in mehr als 20 soliden Tumorentitäten bestätigt.
Das immer tiefere Verständnis der genetischen Prozesse macht eine gezieltere, eine präzisere Charakterisierung möglich. Die Hoffnung: so genannte tumoragnostische Wirkstoffe. Aus der Frage: „Wo ist der Tumor entstanden?“ wird „Wie entsteht er?“ bzw. „Was lässt ihn wachsen?“.
Die Präzisionsonkologie bietet für Patienten ganz neue Möglichkeiten
Ein erster TRK-Inhibitor wurde in Europa zur Zulassung eingereicht – er könnte das erste in Europa erhältliche Krebsmedikament sein, dessen Zulassung tumorunabhängig erfolgt ist und allein auf der Basis der molekulargenetischen Veränderung im Tumor basiert. Für Prof. Dr. Albrecht Stenzinger, Leiter des Molekularpathologischen Zentrums in Heidelberg, eröffnen solche Medikamente „für diejenigen Patienten, die eine entsprechende NTRK-Genfusion aufweisen, eine sehr gut wirksame Therapieoption, die offenbar nicht abhängig von der Tumorlokalisation ist.“ Mehr noch: „Für Patienten ergeben sich dadurch neue Therapiechancen, die es so vorher nicht gegeben hat. Denn durch das bessere molekulare Verständnis der Tumorbiologie bieten sich neue Möglichkeiten, um Patienten sogar zu heilen oder zumindest für längere Zeit in einen chronischen Krankheitsstatus zu überführen.“
Die Herausforderung, die sich nun stellt, ist die genaue Diagnose – der Nachweis einer NTRK-Genfusion muss erbracht worden sein, weil ansonsten diese Medikamente unwirksam sind. Dazu stehen bereits verschiedene Diagnose-Verfahren zur Verfügung, die aber in der Validität ihrer Aussagekraft und -sicherheit stark variieren. Als „Königsdisziplin“ gilt hier das „Next Generation Sequencing“ (NGS). Es ist ein Hochdurchsatzverfahren zur Nukleinsäuresequenzierung; für Prof. Stenzinger „das aus technischer und biologischer Sicht beste Mittel zur Detektion von Genfusionen.“ Denn das NGS „detektiert sowohl seltene Mutationen als auch viele Gene gleichzeitig und erlaubt eine Aussage über die Funktionalität einer Genfusion.“ Die größte Herausforderung für den Einsatz im Alltag sieht er in der Kostenerstattung des Verfahrens. Schon jetzt ist klar: Tumoragnostische Medikamente stellen das Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen. Denn ohne etablierte Diagnose-Instrumente macht ihr Einsatz in der Behandlung von Krebspatienten keinen Sinn bzw. können die Patienten von solchen Innovationen nicht profitieren.
Die Präzisionsonkologie – ein dynamisches Feld
Die Präzisionsonkologie als neue Ära in der Krebstherapie? Bereits im vergangenen Jahr hatte die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA erstmals einem Immuntherapeutikum die Zulassung erteilt, das sich auf einen bestimmten Biomarker bezieht: „Bis heute hat die FDA Krebsmedikamente auf der Basis zugelassen, wo der Krebs im Körper begonnen hat – beispielsweise Lungen- oder Brustkrebs. Wir haben jetzt ein Medikament auf der Basis eines Biomarkers zugelassen – ohne Berücksichtigung der ursprünglichen Tumorlokalisation“, erklärte Richard Pazdur von der FDA seinerzeit.
Prof. Stenzinger ist sich sicher: Das Nutzen-Risiko-Profil werde sich mit der Einführung weiterer Substanzen verbessern. Er erwartet, dass die Nebenwirkungen dieser präzise wirkenden Medikamente „weniger gravierend und besser kontrollierbar“ sein werden. Die Präzisionsonkologie ist ein dynamisches Feld: „Wir werden sicherlich noch viele biologische Mechanismen entdecken, die tumoragnostisch operieren und klinisch nutzbar sind.“