Wie viele Menschen leiden in Deutschland unter Allergien und welches sind die häufigsten Allergieformen?
Prof. Dr. med. Dr. phil. Johannes Ring: Es gibt kein nationales Allergie-Register in Deutschland; wir wissen aber aus epidemiologischen Studien – vor allen Dingen im Kindesalter – dass etwa 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung unter allergischen Erkrankungen leiden. Am häufigsten sind Heuschnupfen, Asthma und bestimmte Hauterkrankungen – also die sogenannten atopischen Erkrankungen, nämlich allergische Rhinokonjunktivitis, allergisches Asthma bronchiale und atopisches Ekzem (atopische Dermatitis, Neurodermitis). Dazu kommt das allergische Kontaktekzem, das eine der häufigsten Berufskrankheiten in Deutschland darstellt – mit einer Häufigkeit von rund 15 Prozent kontaktallergischer Sensibilisierungen in der Gesamtbevölkerung. Weniger gute Zahlen gibt es zur Häufigkeit der lebensbedrohlichen Maximalform einer Allergie, der Anaphylaxie, die bis zum allergischen Schock gehen kann. Man schätzt hier eine Betroffenheit von etwa drei Prozent der Bevölkerung. Nicht eingeschlossen in diese Zahlen sind die ebenfalls sehr häufigen Arzneimittel-Allergien, die unter verschiedenen Bildern auftreten können.
Hat die Anzahl an allergischen Erkrankungen in den letzten Jahren zugenommen? Falls ja: Welche Allergien betrifft das und was sind die Ursachen?
Prof. Ring: Es steht außer Zweifel, dass die Häufigkeit von zahlreichen allergischen Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen hat, insbesondere seit den 1960iger Jahren, als Allergien noch eine Seltenheit darstellten. Es handelt sich bei dieser Zunahme vorwiegend um die atopischen Erkrankungen Neurodermitis, Asthma und Heuschnupfen. Die Ursachen für diese Zunahme sind nicht geklärt; es gibt lediglich Hypothesen.
Welche sind das?
Prof. Ring: Die wichtigsten sind: die „Hygiene“- oder „Urwald“-Hypothese, wonach eine frühkindliche Stimulation des Immunsystems durch Infekte oder Parasiten einen protektiven Effekt gegenüber Allergien aufweist. Daneben steht die Schadstoffhypothese, die Allergie-fördernde Effekte von Umweltschadstoffen, insbesondere Luftschadstoffen, auf die Allergieentwicklung beschreibt; hier sind es vor allen Dingen feine und ultrafeine Partikel aus der Verkehrsbelastung. Auch bestimmte Nahrungsmittel-Allergien haben zugenommen, insbesondere die sogenannten Pollen-assoziierten Nahrungsmittel-Allergien, die auf Kreuzreaktionen zwischen Allergenen in Pollen und Eiweißen in Nahrungsmitteln beruhen. So kann zum Beispiel jemand, der auf Birken-Pollen allergisch reagiert, zugleich eine Haselnuss- oder Apfelallergie entwickeln. Oder jemand mit einer Allergie gegen Beifuß-Pollen kann zugleich allergisch gegen Sellerie oder Karotte sein.
Welche konkreten Fortschritte wurden in den letzten Jahren bei der Erforschung von Allergien erzielt?
Prof. Ring: Die größten Fortschritte der Allergie-Forschung betreffen die Aufklärung der Mechanismen einer allergischen Sensibilisierung über die Interaktion verschiedener T-Zell-Subpopulationen (z. B. Th1 und Th2) und der dazugehörigen Botenstoffe (Zytokine), wo insbesondere dem Interleukin 4 und dem Interleukin 13 eine wesentliche Rolle in der Entstehung von Immunglobulin E-Antikörpern zukommt. Weitere Fortschritte wurden durch die molekulare Genetik erzielt; es gelang auf verschiedenen Chromosomen eindeutige Gen-Orte zu identifizieren, die mit hoher Signifikanz mit dem Auftreten von allergischen Erkrankungen assoziiert sind. Für die Neurodermitis war die Entdeckung einer Mutation des epidermalen Proteins Filaggrin ein entscheidender Durchbruch; dieses Protein ist für die Ausbildung der Barrierefunktion der Haut entscheidend und bei vielen Neurodermitikern in der Funktion gestört.
Fließen neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu Allergien bereits in die Behandlung ein?
Prof. Ring: Es ist leider so, dass von der Entdeckung eines neuen Mechanismus in der Medizin bis zur Entwicklung eines neuen wirksamen Medikamentes im Durchschnitt mindestens zwanzig Jahre vergehen. Die Kluft muss man aushalten. Es gibt aber große Fortschritte durch die Entwicklung von Biologika, also im Reagenzglas von Zellen hergestellte spezifische Medikamente, auch bei Allergien. Seit vielen Jahren ist ein Antikörper gegen Immunglobulin E für schweres Asthma im Einsatz. Nun sind vor kurzem neue Wirkstoffe wie zum Beispiel Antiinterleukin 5 bei eosinophilen Erkrankungen sowie Antiinterleukin 4-Rezeptor zur Behandlung der Neurodermitis (atopisches Ekzem) hinzugekommen.
Schwieriger wird die Umsetzung neuer Erkenntnisse in der Prävention, insbesondere der primären Prävention. So gibt es zum Beispiel aufsehenerregende Befunde aus England, wonach Risikokinder mit einer hohen familiären Atopie-Belastung durch Zufuhr von Erdnuss in kleinen Mengen weniger Erdnuss-Allergien entwickelten als Kinder, die konsequent Erdnuss mieden – was die bisherige Empfehlung war. Auf der ganzen Welt wird nun diskutiert, welche praktischen Folgen aus dieser einen Studie zu ziehen sind und ob es wirklich Sinn macht, aktiv Kinder mit Erdnuss zu belasten, um eine Erdnuss-Allergie zu verhindern, oder ob nicht doch ein gezielter Erdnuss-Verzicht sicherer wäre.
Was könnten Krankenkasse und Gesundheitspolitik tun, um die Behandlung von Allergien zu verbessern?
Prof. Ring: Allergische Erkrankungen erhalten leider in der Öffentlichkeit und bei den gesundheitspolitisch relevanten Gremien nicht die gebührende Aufmerksamkeit. Vielfach werden sie einfach als „Bagatell-Erkrankungen“ betrachtet; das führt dazu, dass wesentliche Therapeutika von den Krankenkassen nicht mehr erstattet werden – so etwa Antihistaminika, topische nasale Steroide sowie Emollientien für die Behandlung der gestörten Barrierefunktion bei atopischem Ekzem. Auch die Allergie-Forschung muss unbedingt noch stärker gefördert werden. Es ist schade, dass bei den vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ausgewählten Gesundheitsschwerpunkten das Thema Allergie keine Beachtung gefunden hat. Überhaupt sollte die Gesellschaft bereit sein, auch Allergiker als „Betroffene“ zu respektieren und nicht – wie das vielfach geschieht – in die „hysterische Ecke“ abzudrängen. Als Anwalt meiner Patienten sehe ich, wie das vielerorts vor allen Dingen mit Nahrungsmittel-Allergikern, aber auch Patienten mit allergischen Hauterkrankungen geschieht. Die Lebensqualität kann durch Allergien ganz erheblich beeinträchtigt werden. Eine Studie zeigte, dass Patienten mit schwerem atopischem Ekzem Beeinträchtigungen der Lebensqualität aufweisen, die in der Größenordnung von Krebserkrankungen und schweren Stoffwechselkrankheiten liegen.
Was kann der Einzelne tun, um die Anfälligkeit für Allergien so gering wie möglich zu halten?
Prof. Ring: Das ist die Frage aller Fragen, leicht gestellt und schwer beantwortet. Salopp gesagt, müsste man vor der Zeugung beginnen und sich die richtigen Eltern suchen. Die Neigung zur Entwicklung von Allergien fällt nicht selten mit einer Überempfindlichkeit von Haut und Schleimhäuten zusammen. In diesem Fall ist regelmäßige Hautpflege ein sinnvolles Mittel – darauf deuten jüngste Untersuchungen aus USA und Japan hin. Risiko-Säuglinge für atopische Erkrankungen wurden in einer Gruppe von Geburt an regelmäßig mit Emollientien (Hautpflegeprodukten) behandelt, die andere Gruppe erhielt keine zusätzlichen Hautpflegemaßnahmen über die übliche Windelbereichshygiene hinaus. Dabei konnte gezeigt werden, dass regelmäßige Hautpflege vom ersten Lebenstag an das Risiko von allergischen Sensibilisierungen und das Auftreten von atopischem Ekzem vermindern kann. Das sind sehr aufregende neue Befunde, die praktische Anregungen und relativ einfach umsetzbare Präventionsstrategien eröffnen.
Wenn ein Mensch bereits allergisch ist, steht, neben der Meidung der wichtigsten Auslöser und der symptomatischen antientzündlichen Behandlung des betroffenen Organs, die Umstimmung des fehlgeleiteten Immunsystems durch Allergen-spezifische Immuntherapie (ASIT) im Vordergrund. Ferner soll er versuchen, unspezifische Reizfaktoren, die auch Allergien verstärken können, so gut es geht zu meiden; dazu gehören Alkohol, akute Infekte, körperliche Überanstrengung, Einnahme bestimmter Medikamente, aber auch psychischer Stress. Im Apollotempel in Delphi steht unter anderem der Spruch „mäden agan“ (Altgriechisch = Nichts übertreiben). Das kann als Wahlspruch der angewandten Allergologie betrachtet werden.
Weiterführende Links:
Weitere Informationen und Fakten rund um das Thema „Allergien“ finden Sie auf der Webseite des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie (BPI): https://www.bpi.de/de/themendienste/allergien
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