Für die allermeisten Menschen, die von einer seltenen Erkrankung betroffen sind, beginnt mit den ersten Symptomen eine lange und beschwerliche Reise. Durchschnittlich fünf Jahre müssen sie sich durch die jeweiligen Gesundheitssysteme kämpfen, bis eine Diagnose feststeht. Darauf hat vor Kurzem die Global Commission to End the Diagnostic Odyssey for Children with a Rare Disease aufmerksam gemacht – ein Zusammenschluss des Pharmaunternehmens Takeda mit Microsoft und EURORDIS. Letztere ist eine Allianz von 800 europäischen Patientenorganisationen.
Für die Odyssee gibt es viele Gründe:
- Es gibt rund 8.000 seltene Erkrankungen. Die kann natürlich kein Arzt, keine Ärztin alle kennen, zumal die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass sie in ihrem Berufsleben noch nie einem Patienten mit einer solchen Erkrankung begegnet sind.
- Seltene Erkrankungen beruhen meist auf genetischen Anomalien, die eine ganze Kaskade von Beschwerden auslösen können – es sind so genannte Multisystem-Erkrankungen. Das erschwert eine Diagnose zusätzlich.
- Diagnose und Behandlung solch komplexer Krankheitsbilder braucht multidisziplinäre Ansätze und eine entsprechende Infrastruktur; etwa spezialisierte Fachkliniken und Kompetenznetzwerke, wie sie im Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen vorgesehen sind.
„Leider erhalten betroffene Patienten in 40 Prozent der Fälle eine Fehldiagnose”, fasst Wolfram Nothaft, Chefmediziner bei Takeda, das Problem zusammen. Am Beispiel des Fragilen-X-Syndroms zeigt die vfa-Broschüre „Forschung für die Waisen des Gesundheitssystems” die Herausforderung auf: „Ein Kleinkind, das eher ängstlich und zurückgezogen ist – wer kommt da auf einen Gendefekt?“ Aber die auf einem Gendefekt auf dem X-Chromosom beruhende Krankheit „löst genau solche Symptome aus. Die Betroffenen leiden zudem unter Lern- und Sprachstörungen sowie Aufmerksamkeitsdefiziten.“
Es gibt Eltern, die von einer zehnjährigen Reise berichten, bis sie endlich eine Diagnose erhielten; in der gesamten Europäischen Union (EU) sind nur rund ungefähr 100.000 Menschen betroffen. Zugelassene Medikamente gibt es noch keine – aber zehn Wirkstoffe sind in der Entwicklung.
Maximal fünf Patienten pro 10.000 Menschen
Was selten ist und was nicht, ist streng geregelt. In der EU gilt: Nicht mehr als fünf Patienten unter 10.000 Menschen dürfen betroffen sein. Am Beispiel eines mit 75.000 Menschen besetzten Stadions lassen sich die Dimensionen für verschiedene Erkrankungen in einer interaktiven Grafik des vfa nahvollziehen: Sieben Besucher würden demnach an Mukoviszidose leiden; die Stoffwechselerkrankung gilt als selten. Von Asthma hingegen wären in demselben Stadion 3.933 Besucher betroffen.
In der EU sind heute 110 Medikamente gegen seltene Erkrankungen (die Liste finden Sie hier) zugelassen. Hinzu kommen noch einmal 48 Arzneimittel, die zwar Orphan Drugs sind, aber diesen Status nicht mehr tragen. (Er läuft nach zehn Jahren aus.) Weitere 1.900 Substanzen (Stand: Februar 2019) tragen bereits den Orphan Drug-Status, sind aber noch in der klinischen Entwicklung. „Forschende Pharma-Unternehmen richten ihre Forschung auch am medizinischen Bedarf der Menschen mit seltenen Erkrankungen aus“, erklärt Birgit Fischer, vfa-Hauptgeschäftsführerin. „Galten solche Erkrankungen früher als Waisenkinder der Medizin, hat sich seit der Jahrtausendwende viel getan: […] Rund 160 Orphan Drugs […] wurden von Unternehmen entwickelt und sind in der EU zugelassen. Und jedes Jahr kommen weitere hinzu. Für Menschen mit seltenen Erkrankungen sind es Hoffnungsträger, die bei ihrer Erkrankung endlich wirksam helfen können.”
Im Wesentlichen drei Gründe gibt es für diesen Fortschritt:
- Die Genetik hinter diesen Erkrankungen wird immer besser verstanden. Und mit dem Erkenntnisgewinn erschließen sich Ansätze für Therapien.
- Die öffentliche Aufmerksamkeit für die „Seltenen“ hat zugenommen.
- Die im Jahr 2000 eingeführte EU-Verordnung baut für die forschenden Unternehmen Hindernisse ab, um das wirtschaftliche Risiko bei der Entwicklung von Medikamenten einzudämmen.
Die Verordnung ist der Versuch, die Rahmenbedingungen zu verbessern, in denen medikamentöse Forschung gedeihen kann. Denn für privatwirtschaftlich agierende Unternehmen steht dem hohen Forschungsrisiko per Definition ein nur geringes Umsatzpotenzial gegenüber. In der vfa-Broschüre heißt es dazu: „Trotzdem sind sie relativ hochpreisige Produkte. Denn nur so ergibt sich die Aussicht auf Umsätze, die ein Anreiz für die pharmazeutischen Unternehmen sind, die Forschung zu intensivieren. Der Bedarf ist groß: Es gibt immer noch Tausende von seltenen Leiden, für die keine Arzneimittel zur Verfügung stehen.“
Mit dem Erfolg kommen die Klagen: Angesichts der ständig zunehmenden Zahl der Orphan Drug-Zulassungen – im Jahr 2018 kamen 16 neue Medikamente hinzu (s. vfa) – steigen die Sorgen über die Finanzierbarkeit. Für die allerdings sieht der vfa keinen Grund. Noch einmal Fischer: „Ein Orphan Drug wird per Definition selten eingesetzt, und entsprechend begrenzt ist das Umsatzpotenzial. Im Ergebnis heißt das: Ihr Anteil an den Gesamtausgaben der Krankenkassen für Medikamente liegt lediglich bei 4,0 Prozent.” Anders formuliert: 96 Prozent der Ausgaben für Arzneimittel gibt die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) nicht für Medikamente gegen seltene Erkrankungen aus – über 70 Prozent von ihnen verursachten der GKV Kosten von unter 10 Millionen Euro. Fazit in der Broschüre: „Gerade in diesem Bereich, in dem ein hoher Bedarf an innovativen Therapien besteht, ist es sowohl positiv für die Arzneimittelhersteller als auch wünschenswert für die Patienten und die gesamte Gesellschaft, dass die Entwicklung eines Orphan Drug kein Zuschussgeschäft ist.“
Hier finden Sie die vfa-Broschüre: „Forschung für die Waisen des Gesundheitssystems“.