Dr. med. Jens Lipinski arbeitet bei Bayer Vital in dem Bereich „Patient Relations“. Im Interview erklärt er: Er sieht sich als „Brückenbauer“. Foto: © Bayer Vital
Dr. med. Jens Lipinski arbeitet bei Bayer Vital in dem Bereich „Patient Relations“. Im Interview erklärt er: Er sieht sich als „Brückenbauer“. Foto: © Bayer Vital

Patientenzentrierung in der pharmazeutischen Industrie

Dr. med. Jens Lipinski arbeitet bei Bayer Vital in dem Bereich „Patient Relations“. Im Interview erklärt er: „Für uns bedeutet ‚Patientenzentrierung‘ […] vor allem, dass wir Patienten mit dem uns Möglichen unterstützen möchten, sich und ihre Gesundheit bzw. den Umgang mit ihrer Erkrankung in den Mittelpunkt ihres eigenen Handelns zu stellen.“
Dr. med. Jens Lipinski, Foto: © Bayer Vital
Dr. med. Jens Lipinski, Foto: © Bayer Vital

Herr Dr. Lipinski, Sie arbeiten bei Bayer Vital in dem Bereich „Patient Relations“. Was sind Ihre wichtigsten Aufgaben?

Dr. med. Jens Lipinski: Vereinfacht gesagt bin ich ein Brückenbauer. Intern, bei Bayer, bin ich Ansprechpartner, wenn wir Patienten einbinden, um beispielsweise bessere Serviceangebote zu entwickeln. Da werde ich als Brückenbauer aktiv, wenn Kollegen noch keine Erfahrung in der Interaktion mit Patienten haben. Auf der anderen Seite suche ich den Kontakt zu Patienten, ihren Organisationen und deren Vertretern, um mit ihnen Möglichkeiten des Austauschs zu eruieren. Da muss ich manchmal Brücken bauen, wenn die Ernsthaftigkeit oder der gemeinsame Wert der Interaktion in Frage gestellt werden.

Ich empfinde diese Aufgabe als derzeit eine der spannendsten und überraschendsten in der pharmazeutischen Industrie. Spannend, weil ich einerseits immer wieder vor anderen Tälern stehe, über die ich ganz neue Arten von Brücken bauen darf. Und überraschend, weil ich in den Interaktionen nie sicher sein kann, dass eine gut begründbare und auf lange Erfahrung fundierte Perspektive durch die Erzählung der Betroffenen nicht nur erweitert, sondern manches Mal sogar auf den Kopf gestellt wird.

In der Beziehung zu Patienten steht für Pharmaunternehmen aktuell das Schlagwort „Patient Centricity“ („Patientenzentrierung“) im Fokus. Standen die Bedürfnisse der Patienten nicht schon immer im Mittelpunkt der Pharmaunternehmen?

Lipinski: Na ja, das hängt davon ab, wie Sie „Patientenzentrierung“ und „Bedürfnisse“ definieren. Wenn Sie im Internet danach suchen, wird „Patientenzentrierung“ meist als ein „wir stellen den Patienten in den Mittelpunkt unseres Handelns“ definiert. Wir sehen das etwas differenzierter, weil wir nicht unglaubwürdig wirken möchten, wenn manche unserer Entscheidungen für wirtschaftliche Ergebnisse notwendig sind, mit denen wir auch in Zukunft sicherstellen möchten, Produkte für ein längeres und aktiveres Leben von Patienten entwickeln zu können – ähnlich, wie auch Arztpraxen, Krankenhäuser oder Krankenkassen handeln müssen.

Zum anderen sind wir uns nicht sicher, ob sich jeder Patient wirklich gut fühlt, wenn er in den Mittelpunkt des Handelns eines anderen gestellt wird. Denn wie viele Patienten sind nicht sich selbst am wichtigsten, sondern haben vor allem das Bedürfnis, dass sich ihr Doktor oder ihre Angehörigen nicht belästigt fühlen. Für uns bedeutet „Patientenzentrierung“ deshalb vor allem, dass wir Patienten mit dem uns Möglichen unterstützen möchten, sich und ihre Gesundheit bzw. den Umgang mit ihrer Erkrankung in den Mittelpunkt ihres eigenen Handelns zu stellen.

Es fällt Pharmaunternehmen in vielen Fällen nicht schwer, mit ihren Produkten das Bedürfnis von Patienten nach Beschwerdefreiheit oder -erleichterung zu befriedigen. Wir stehen aber immer noch vor großen Herausforderungen, wenn Patienten aus Angst vor Nebenwirkungen oder aufgrund einer subjektiven Symptomfreiheit das Bedürfnis zum Absetzen einer notwendigen Medikamenteneinnahme entwickeln. Hierfür Lösungen zu entwickeln, sehe ich als eine der Aufgaben, die nur gemeinsam, d.h. in der Zusammenarbeit von allen an der Gesundheitsversorgung Beteiligten bewältigt werden kann.

Wie hat sich die Rolle des Patienten in den letzten Jahren (auch aufgrund der Digitalisierung) verändert?

Neue Informationsangebote finden Patienten im Internet, Foto: CC0 (Stencil)
Neue Informationsangebote finden Patienten im Internet, Foto: CC0 (Stencil)

Lipinski: Erst die zunehmende Digitalisierung hat zum „informierten“ Patienten führen können. Dabei können wir allerdings zwei gegenläufige Tendenzen beobachten: Eine Gruppe von Patienten, die jetzt besser als früher informiert ist und mitentscheiden kann und möchte, und die andere, die von der Informationsflut überfordert oder sogar verwirrt wird. Aber selbst bei der ersten Gruppe können die neuen Informationsangebote zu einem fokussierten Detailwissen oder zu idealisierten Wunschvorstellungen führen, was wiederum erhöhte kommunikative Anforderungen an Ärzte und andere an der Versorgung beteiligte Gruppen stellen kann. Obwohl „Patienten“ im Begriff stehen, sind Konzepte wie „Patienten-relevanter Nutzen“, „Patienten-Präferenzen“ oder „Patienten-Empowerment“ immer noch vorwiegend das Beschäftigungsfeld nur von Wissenschaftlern.

Der Transfer in den Versorgungsalltag gelingt meines Erachtens noch viel zu selten. Ich könnte mir gut vorstellen, dass ein ganz neuer Schub entstehen würde, wenn Patienten nicht nur das Recht zur Beteiligung hätten, sondern sie dazu verpflichtet würden.

Wie funktioniert heute moderne „Patientenzentrierung“? Und was haben die Patienten davon?

Lipinski: Aus meiner Sicht beginnt für Pharmaunternehmen „Patientenzentrierung“ da, wo Aktivitäten über das Erfüllen von rechtlichen Anforderungen oder formalen Standards hinausgehen. Anders gesagt, wenn es nicht mehr um das „Ob“ sondern das „Wie“ geht, also beispielsweise dass eine Information zur Studieneinwilligung die Vor- und Nachteile der Teilnahme auch verständlich beschreibt oder dass Nebenwirkungen nicht nur in der Fachinformation erwähnt, sondern Unterstützungen zu deren Vermeidung angeboten werden.

Voraussetzung für „Patientenzentrierung“ ist, dass wir die Interessen, Bedürfnisse und Wünsche der Patienten erfragen und unsere Prozesse, Strukturen und Entscheidungen daran orientieren. Darauf basierend haben wir in unserem eigenen Patientenleitbild beschrieben, dass wir für Patienten Nutzen schaffen und Sicherheit bieten, sie informieren, aufklären und mit Serviceangeboten begleiten sowie den Dialog suchen und menschlich handeln wollen.

Hilfreich, um Patienten wirklich darin unterstützen zu können, ihre Gesundheit aktiv mitzugestalten und für sich wichtige Entscheidungen treffen zu können, wäre allerdings, wenn wir als Pharmaindustrie nicht immer nur gespiegelt bekämen, was von uns nicht erwartet wird, sondern was man sich von uns wünscht. Denn wenn unsere Aufgabe auf das Bereitstellen von (sicheren) Arzneimitteln reduziert und wir als kompetente Akteure in Fragen der Arzneimittelinformation ausgeschlossen werden, befürchte ich, dass sich die „Patientenzentrierung“ der Pharmaindustrie kaum weiterentwickeln kann. Dass es auch anders geht, zeigt der Pharmadialog NRW, in dem wir gemeinsam mit der Politik und unter Beteiligung von Patientenvertretern zum Thema „Gesundheitskompetenz“ Lösungen entwickeln sowie darauf basierende Handlungsschritte vereinbaren werden.

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