Ein Sechsjähriger wacht an einem Morgen im April in seinem Bett auf. Seine Beine tun ihm weh – aber die Lust mit seinen Freunden draußen zu spielen ist größer als der Schmerz. Er springt daher auf – und stürzt. Denn seine Beine sind so schwach, dass sie ihn nicht mehr tragen. Sein Zustand verschlechtert sich – am dritten Tag bringt ihn seine Mutter ins Krankenhaus. Dort steht nach ein paar Untersuchungen fest: Er hat Poliomyelitis – auch bekannt als Kinderlähmung. In Papua-Neuguinea ist der Junge namens Gafo inzwischen eine Berühmtheit. Denn er war der erste Polio-Erkrankte seit Jahrzehnten. Seine Mutter sagt: „Was meinem Sohn passiert ist, hat das Bewusstsein für Polio erhöht und viele Mütter lassen nun ihre Kinder impfen – und schützen sie vor lebenslangen Lähmungen.“
Nachdem der Fall von Gafo bekannt wurde, entdeckte man das Virus auch bei zwei gesunden Kindern. Am 25. Juni 2018 machte Papua-Neuguinea öffentlich: Es gibt einen Polio-Ausbruch. Ein Bericht (s. „Polio Outbreak Response“) über die ersten 100 Tage nach diesem Ereignis fasst zusammen: Im Rahmen von zwei ersten Durchläufen einer Impfkampagne wurden insgesamt 1,6 Millionen Impfdosen ins Land geschifft. Laut Robert Koch-Institut (RKI) gab es im Gesamtjahr 2018 26 Erkrankungsfälle – in diesem Jahr noch keinen einzigen. Gafo ist sich sicher: Er will einmal Arzt werden. Laufen kann er nicht mehr – die Erkrankung ist irreversibel – aber er hat eine ganz eigene Gangart entwickelt, um mit seiner Schwester und seinen Freunden möglichst mitzuhalten.
Polio-Ausrottung bis 2000 – verschoben
Vor über 30 Jahren wurde die Global Polio Eradication Initiative (GPEI) ins Leben gerufen. Sie ist eine öffentlich-private Partnerschaft, die von nationalen Regierungen in Unterstützung von fünf Partnern – darunter die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Kinderhilfswerk UNICEF – geführt wird. Ihr Ziel: Polio bis ins Jahr 2000 ausrotten. Dass das nicht geklappt hat, ist bekannt. Beachtliche Erfolge wurden dennoch mit Hilfe weltweiter Impfkampagnen erzielt: „80 Prozent der Weltbevölkerung lebt in poliofreien Gebieten und vier von sechs WHO-Regionen sind als poliofrei zertifiziert worden: WHO-Region Amerika 1994; Westpazifik 2000; Europa 2002; Südostasien 2014“, so das RKI.
In einem Schreiben der GPEI von Anfang 2019 heißt es: „Die Anstrengungen zur Polio-Eradikation sind 31 Jahre alt. Die Welt ist verlockend nah dran, frei von Polio zu sein.“ 1988 gab es noch 350.000 Erkrankungen durch das Polio-Wildvirus; 2018 waren es 33. Eigentlich sollte Polio laut GPEI nun bis vergangenes Jahr ausgerottet sein. „Das ist nicht der Fall und der Plan wurde nun überarbeitet und bis 2023 ausgeweitet.“ Das Ziel der Eradikation kann nicht auf ewig verschoben werden: „31 Jahre ist lang genug.“ Als Endemiegebiete werden aktuell noch Pakistan, Afghanistan und Nigeria bezeichnet. Aber auch in anderen Ländern wie dem Kongo kommt es zu einzelnen Ausbrüchen – wenn zum Beispiel ein Virus aus einem anderen Land importiert wird.
Polio-Impfung: einer der größten medizinischen Durchbrüche des 20. Jahrhunderts
Zur Prävention von Polio gibt es zum einen Lebendimpfstoffe (oral poliovirus vaccines, OPV), die geringe Mengen vermehrungsfähiger Krankheitserreger enthalten; und zum anderen Totimpfstoffe (inactivated poliovirus vaccine, IPV). In Deutschland, das als frei von Polioviren gilt, werden von der Ständigen Impfkommission (STIKO) letztere empfohlen. Sie schützen zuverlässig vor einer Erkrankung, d.h. einer Lähmung.
„Mit IPV geimpfte Personen können sich aber dennoch mit Poliomyelitis-Viren infizieren und diese unbemerkt ausscheiden und dadurch weiterverbreiten“, erklärt die STIKO. Auf dem Weg bis hin zur Polio-Eradikation sind Lebendimpfstoffe daher das vorherrschende Instrument. Sie können die Virus-Übertragung unterbrechen und kommen laut GPEI deshalb immer dann zum Einsatz, wenn es gilt einen Polio-Ausbruch einzudämmen. Ein weiterer Vorteil: Sie sind kostengünstiger, werden oral verabreicht und sind relativ leicht zu händeln. Es braucht kein Fachpersonal und auch keine sterilen Spritzen – eine gute Voraussetzung für groß angelegte Impfkampagnen, wie sie in Papua-Neuguinea durchgeführt wurden. Hinzu kommt: Nach einer Impfung repliziert sich das Impfvirus im Darm, wird ausgeschieden und kann auf Menschen in näherer Umgebung übertragen werden. So kann es in Regionen mit mangelhafter Hygiene und schlechter Kanalisation sogar einen passiven Impfschutz für jene bieten, die nicht geimpft wurden.
Einen Nachteil haben die Polio-Lebendimpfstoffe jedoch: In extrem seltenen Fällen kann ein vom Vakzin abgeleitetes Virus (VDPV) in der Bevölkerung zirkulieren und bei nicht ausreichenden Impfquoten Ausbrüche hervorrufen. In Ländern wie Deutschland, das frei von Polio-Wildviren ist, kommen daher Totimpfstoffe zum Einsatz: Das (extrem geringe) Risiko von VDPV-Ausbrüchen durch Lebendimpfstoffe ist größer als das Risiko, dass das Polio-Wildvirus aus anderen Ländern eingeschleppt wird. Hohe Impfquoten sind weiterhin wichtig: Denn solange das Virus auf der Welt existiert, besteht die Möglichkeit eines Reimports.
Polio Endgame Strategy 2019-2023
Laut GPEI kommt nun das große „Endgame“: Die Initiative hat eine „Polio Endgame Strategy 2019-2023“ vorgelegt. „Die Weltgemeinschaft war an dem Punkt, an dem sie heute steht, schon einmal: mit den Pocken. Diese Geißel ist fort; die Welt ist ein sehr viel besserer Platz. Lasst uns wieder Geschichte schreiben. Es ist an der Zeit die Polio-Eradikation zu Ende zu bringen“. Es gilt, auch das allerletzte Kind, dem die Impfung fehlt, zu finden – bevor es das Virus tut. In der Endgame-Strategie hat die GPEI daher die verbleibenden Herausforderungen, die der Polio-Ausrottung im Wege stehen, ausgearbeitet und Lösungen entwickelt.
Zudem bedarf eine poliofreie Welt einiges an Vorbereitung: Denn es muss eine Welt sein, die ohne GPEI auskommt und trotzdem poliofrei bleibt. Manche Dinge, die die GPEI aktuell leistet – wie etwa die Überwachung von Krankheitsfällen – muss weiterhin von anderen Stellen geleistet werden. Auch gilt es, die Gabe von OPV im Rahmen von Routine-Impfungen zu beenden – „sobald wie möglich nach Eradikation des Polio-Wildvirus“. Denn ansonsten besteht auch nach Ausrottung des Wildvirus die Möglichkeit, dass Impfstoff-abgeleitete Viren (VDPV) zirkulieren. In einer poliofreien Welt wird es das Wildvirus weiterhin in bestimmten Laboren geben; sie nutzen es zum Beispiel zur Produktion von Impfstoffen oder für Forschungszwecke. Die GPEI möchte die Zahl solcher Einrichtungen minimieren, um das Risiko, das von ihnen ausgeht, gering zu halten. Auch müssen sie gewisse Standards erfüllen.
„Bei vollständiger Umsetzung und Finanzierung kann die Polio Endgame Strategie 2019-2023 Polio in die Geschichtsbücher verdammen. Aber um das zu erreichen, müssen wir alle – Länder, GPEI-Partner, Geldgeber, Gemeindevorsteher, Eltern, Impfärzte – versprechen, dass wir uns umfänglich und unumstößlich einem klaren Ziel widmen: eine Welt frei von Polio – für alle Kinder, überall“, so der Appell im Vorwort der Endgame-Strategie.