Der Fortschritt in der Onkologie  der Kampf gegen den Krebs  ist schnell – und er ist unübersehbar. Ein Bericht vom diesjährigen Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit (HSK 2019). Foto: CC0 (Stencil)
Der Fortschritt in der Onkologie der Kampf gegen den Krebs ist schnell – und er ist unübersehbar. Ein Bericht vom diesjährigen Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit (HSK 2019). Foto: CC0 (Stencil)

Krebs: Chronik des Fortschritts

Der Fortschritt in der Onkologie, der Kampf gegen den Krebs, ist schnell – und er ist unübersehbar. Dieser Erkenntnis konnte sich auf dem diesjährigen Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit (HSK 2019) niemand, der die entsprechenden Veranstaltungen besuchte, entziehen.

Eine Selbsthilfegruppe von Lungenkrebspatienten mit der sehr seltenen ROS1-Mutation als Treiber der Krankheit? „So eine Selbsthilfegruppe gab es nie. Früher sind die nämlich alle gestorben“, erzählte Prof. Carsten Bokemeyer vom Zentrum für Onkologie am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf auf dem HSK in Berlin. „Jetzt werden die plötzlich zu Langzeit-Überlebern – das ist natürlich beeindruckend“. Dass es heute solche Gruppen gibt, ist eine Folge davon, dass auch dieser sehr kleinen Patientengruppe wirksame Behandlungen zur Verfügung stehen. Bokemeyer sprach deshalb von „Enthusiasmus“, der sich in der Onkologie breit macht, „weil für mich als Arzt und Wissenschaftler ist es schon eine fantastische Entwicklung, wie die Behandlung von bösartigen Erkrankungen in den letzten Jahren vorangekommen ist und welche zunehmend besseren Perspektiven wir Patienten heute ermöglichen.“ 

Die Genetik kommt den Krebsforschern zur Hilfe

Krebszelle und Lymphozyten Foto: © Christoph Burgstedt - iStock
Krebszelle und Lymphozyten Foto: © Christoph Burgstedt – iStock

Kein Zweifel – die Art und Weise, wie heutzutage Krebs behandelt wird, verändert sich stark. Und sie tut das mit sehr hohem Tempo. Denn zu den klassischen „Schwertern“ im Kampf gegen diese mehr als 300 Krankheiten – Operation, Strahlung, Chemotherapie – kommt den Wissenschaftlern heute die Genetik zu Hilfe. Oder vielmehr die Tatsache, dass die Wissenschaft die genetischen Grundlagen von Krebs immer besser versteht und es beispielsweise deshalb durch Manipulationen des Immunsystems oder durch die Hemmung bestimmter Signalwege gelingt, Dinge zu tun, die vor ein paar Jahren nicht denk- oder zumindest nicht umsetzbar gewesen wären.

Das zeigen folgende Beispiele:

  • Multiples Myelom: Hier konnten gerade in den vergangenen zehn Jahren viele neue Medikamente zugelassen werden, die die Behandlung dieser seltenen Blutkrebsart deutlich verbessert hat: „Alle diese Möglichkeiten haben dazu geführt, dass das Gesamtüberleben sich von rund dreieinhalb Jahren in 1995 auf heute aktuell etwa zehn Jahre im Median verlängert hat“, so Bokemeyer. Eine Verdreifachung und doch nur eine Momentaufnahme: Denn was die neuen Medikamente, die erst seit Kurzem verfügbar sind, in dieser Hinsicht erreichen werden, ist hier noch gar nicht berücksichtigt.
  • Metastasiertes, nicht-kleinzelliges Lungenkarzinom: Eine Krebsart, die für den Onkologen aus Hamburg ein „Beispiel extrem komplizierter molekularer Medizin“ ist. Dort wird heute routinemäßig eine genetische Analyse des Tumors erstellt, auf dessen Grundlage dann das entsprechende Medikament ausgesucht wird. Leider bilden sich laut Bokemeyer oft schnell Resistenzen. Dann folge die nächste Testung – denn mittlerweile gibt es auch gegen einige der Resistenzen zielgerichtete Medikamente: „Und so setzen wir Bausteine aufeinander, die zum Teil auch mit sehr geringer Toxizität, sehr viel Lebenszeit erzielen.“
  • Melanom: Jeder zweite Melanom-Patient hat eine so genannte BRAF-Mutation. Durch die Kombination von zwei Tyrosinkinase-Inhibitoren sind fünf Jahre nach Therapiebeginn 30 Prozent der Patienten noch am Leben. „Früher ist man mit einem metastasierten Melanom in der Regel nach zwölf Monaten gestorben“, so Bokemeyer.
  • Immuntherapie: Sie ist für den Professor „die nächste große Revolution.“ Mit Hilfe der Checkpoint-Antikörper gelingt es, die Bremsen des Immunsystems zu lösen; die neuen Medikamente versetzen die T-Zellen wieder in die Lage, Tumorzellen zu bekämpfen. Checkpoint-Inhibitoren kommen heute bei einer Vielzahl von Krebserkrankungen zum Einsatz, bei Nieren-, Magen-, Kehlkopf-, Haut- oder Lungenkrebs zum Beispiel.

Immun- und Zelltherapie bei Krebs: Eine Revolution jagt die andere

Die „große Revolution“ Immuntherapie ist angelaufen – und schon wurde mit den Zulassungen der ersten beiden Vertreter einer neuartigen Zelltherapie das nächste Kapitel aufgeschlagen. Bei den so genannten CAR-T-Therapien (s. Grafik) werden die T-Zellen nicht im Körper selbst, sondern in den Pharmalaboren modifiziert. Sie bekommen einen neuen Rezeptor eingepflanzt, der Strukturen auf den Tumorzellen zu erkennen weiß, um diese zu bekämpfen. Die CAR-T-Technologie ist in seiner Umsetzung hochkomplex. Das Umfeld, in dem sie eingesetzt wird, ist dramatisch, denn die Patienten sind mehrfach erfolglos vorbehandelt und in einer Situation, in der den behandelnden Ärzten die Therapieoptionen ausgegangen sind. Bokemeyer fasst es so zusammen: „Dann hat man diese T-Zellen stimuliert, verändert, zurückgegeben – das gelingt nicht bei jedem Patienten. Aber da, wo man es gemacht hat, sieht man: Das Überleben – momentan noch mit kurzer Beobachtungszeit von knapp zwei Jahren – ist bei etwa 50 Prozent der Patienten. Und das in einer Situation, in der sie sonst noch drei Monate leben würden.“ Bei Patienten, die besonders gut auf CAR-T ansprechen, sind es sogar rund 80 Prozent.

Das Ende der Chemotherapie sieht Prof. Bokemeyer trotzdem nicht eingeleitet. Denn die Forschung geht in die Richtung, nicht nur verschiedene Immuntherapien miteinander zu kombinieren, sondern Patienten auch mit Immuntherapien plus Chemotherapie zu behandeln. Bei manchen Patienten – z.B. im Bereich Lungenkrebs – verbessert dies noch einmal die Überlebenschancen. Fazit des Onkologen: „Aus meiner Sicht war es noch nie so erfolgreich wie heute, dass wir diese Grundlagenerkenntnisse wirklich in innovative Therapien umsetzen können.“

Keine Krebsdiskussion ohne Kostendiskussion

Geht es um die Fortschritte in der Onkologie ist die Kostendiskussion nicht weit. Sie verdichtet sich in der Frage: Kann das Gesundheitssystem die Folgen dieses Innovationsbooms schultern? Die Kosten der Medikamente, die für eine Jahrestherapie schon mal sechsstellig sein können, werden in der Öffentlichkeit oft mit dem Hinweis kritisiert, dass die Produktionskosten solcher Präparate doch nur einen Bruchteil dieser Summen ausmachen. Auf dem HSK machte Thomas Müller, Leiter der Abteilung 1 Arzneimittel, Medizinprodukte und Biotechnologie im Bundesministerium für Gesundheit, deutlich, was er davon hält: „Es gibt eine etwas simple Position, die sagt: Warum geben wir soviel aus? Ein Molekül kostet ja gar nicht so viel.“ Man könne im Prinzip sagen: Die Produktionskosten von so einem Molekül oder einem Antikörper betragen sicher nicht 100.000 Euro im Jahr. Müller: „Das ist schwierig, weil wir wissen, dass Innovation bei Arzneimitteln Kreativität, Forschung, Entwicklung ist und wir brauchen Anreize. Wir wollen, dass die hellsten Köpfe, die besten Forscher und auch die Anstrengungen der Firmen die Innovation im Gesundheitswesen lenken. Es ist wichtig, dass Innovation auch Anreize hat. Und die Anreize sind eben in einem privatwirtschaftlichen System […] das, was man hinterher damit verdienen kann.“ Systeme, die auf dieses privatwirtschaftliche System nicht gesetzt hätten, seien in der Arzneimittelentwicklung stark zurückgeblieben. „Es gibt für uns gute Gründe, dieses System zu schützen. Das heißt aber, dass wir die Preise bei Arzneimitteln auf einer Höhe halten müssen – ich will jetzt nicht dafür plädieren, dass sie unbegrenzt hoch sind – die Anreize setzen müssen für einen Wertschöpfungszyklus, der zum Teil über 20 Jahre geht.”

„Geld-zurück-Modelle“ in der Arzneimittelversorgung

Für die CAR-T-Zelltherapien haben die Hersteller mit einigen Krankenkassen „outcome-basierte“ Verträge ausgehandelt. Foto: CC0 (Stencil)
Für die CAR-T-Zelltherapien haben die Hersteller mit einigen Krankenkassen „outcome-basierte“ Verträge ausgehandelt. Foto: CC0 (Stencil)

Die große Herausforderung bleibt aus seiner Sicht, in Zukunft sicherzustellen, dass diese Arzneimittelinnovationen auch wirklich bei allen Patienten ankommen können. Auch in dieser Hinsicht setzen Sprunginnovationen wie die CAR-T-Technologie übrigens innovative Denkprozesse in Gang. Für die beiden in Deutschland zugelassenen Zelltherapien haben die beiden Hersteller mit einigen Krankenkassen so genannte „outcome-basierte“ Verträge ausgehandelt – es ist eine Art „Geld-zurück-Modell“. Das Prinzip: Sprechen die Patienten auf die Behandlungen nicht oder nur schlecht an, kann die Kasse vom Arzneimittelentwickler Geld zurückverlangen. Die Idee dahinter: hoch-innovative und potenziell lebensrettende Therapien schnellstmöglich verfügbar machen und gleichzeitig Wirtschaftlichkeitsaspekte berücksichtigen.

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