Mediziner Dr. Ludwin Ley im Interview: Ein 60-jähriger Patient mit Typ-2-Diabetes verliert im Mittel sechs Lebensjahre. In Kombination mit einem Herzinfarkt sind es sogar zwölf. Foto: © iStock.com/Boarding1Now (Markus Mainka)
Mediziner Dr. Ludwin Ley im Interview: Ein 60-jähriger Patient mit Typ-2-Diabetes verliert im Mittel sechs Lebensjahre. In Kombination mit einem Herzinfarkt sind es sogar zwölf. Foto: © iStock.com/Boarding1Now (Markus Mainka)

Paradigmenwechsel bei der Diabetes-Therapie: Mehr als nur eine „Zuckerkrankheit“

Ein 60-jähriger Patient mit Typ-2-Diabetes verliert im Mittel sechs Lebensjahre. In Kombination mit einem Herzinfarkt können es im Mittel sogar zwölf sein, erzählt der Mediziner Dr. Ludwin Ley von Boehringer Ingelheim im Pharma Fakten-Interview. Immerhin: Zunehmend rückt in der Therapie in den Fokus, dass Diabetes nicht nur eine „Zuckerkrankheit“, sondern auch ein Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen und Ereignisse wie Herzinfarkt, Schlaganfall und frühzeitiger Tod ist.

Im Jahr 1922 kam zum ersten Mal Insulin zur Behandlung eines dreizehnjährigen Jungen mit Diabetes zum Einsatz. Wie hat das den Umgang mit der Erkrankung verändert?

Diabetes - die ‚Zuckerkrankheit‘. Foto: CC0 (Stencil)
Diabetes – die ‚Zuckerkrankheit‘. Foto: CC0 (Stencil)

Dr. Ludwin Ley: Dazu möchte ich betonen, dass es sehr wichtig ist, zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes zu differenzieren. Typ-1-Diabetes ist durch einen absoluten Insulinmangel geprägt. Ihn verstehen wir heute als Autoimmunerkrankung: Das Immunsystem zerstört die Insulin-produzierenden Zellen – die Betazellen in der Bauchspeicheldrüse. Die Folge: Es wird kein körpereigenes Insulin mehr gebildet. Doch Insulin ist lebenswichtig – unter anderem, weil es den Zucker, und damit Energie, in die Zellen befördert. Wenn Insulin fehlt, ist der Organismus auf Dauer nicht lebensfähig. Deswegen war die Substitution dieses Hormons für den Typ-1-Diabetes der Durchbruch schlechthin.

Das ist hier bis heute die Standardtherapie. Es läuft viel Forschung, um den Patienten ein möglichst normales Leben zu ermöglichen und die Therapie weiter zu optimieren. Aber es gilt: Die Insulin-Substitution ist nach wie vor im Grunde die einzige Therapie für den Typ-1-Diabetiker. 

Und bei Typ-2-Diabetes?

Ley: Da ist es anders: Der Typ-2-Diabetiker hat in der Regel genug eigenes Insulin; es wirkt bei ihm aber nicht ausreichend. Fehlernährung und Übergewicht spielen neben Bewegungsmangel und anderen, auch genetischen Faktoren vermutlich eine Schlüsselrolle. Hier gibt es Medikamente, die den Körper unter anderem unterstützen, das vorhandene körpereigene Insulin wieder besser zu nutzen bzw. die Sensibilität für Insulin zu erhöhen.

Was tut sich aktuell in der Behandlung des Typ-2-Diabetes?

Diabetes: Risikofaktor für Herzinfarkt und Co. Foto: CC0 (Stencil)
Diabetes: Risikofaktor für Herzinfarkt und Co. Foto: CC0 (Stencil)

Ley: Es findet zurzeit ein Paradigmenwechsel statt: Zunehmend rückt in den Fokus, dass Diabetes nicht nur eine „Zuckererkrankung“ ist, sondern auch ein Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen und Ereignisse wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder den frühzeitigen Tod. Epidemiologische Daten zeigen, dass ein 60-jähriger Patient mit Typ-2-Diabetes im Mittel sechs Lebensjahre verliert. Wenn dann noch ein Herzinfarkt dazu kommt, führt dies im Mittel zu einem Lebenszeitverlust von zwölf Jahren. Epidemiologischen Daten zufolge ist jeder sechste Todesfall in Deutschland mit Diabetes assoziiert. Das rückt in der Kommunikation und der öffentlichen Berichterstattung zwar zunehmend in den Fokus, ist aber immer noch nicht ausreichend bekannt. 

Darüber hinaus gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass Diabetes neben den bekannten Schäden an Augen, Nieren und Nerven auch das Risiko für Herzinsuffizienz erhöht sowie den Eintritt einer Herzinsuffizienz etwa zehn Jahre nach vorne verlegt. Herzinsuffizienz, also die eingeschränkte Pumpfunktion des Herzens, ist eigentlich eine Erkrankung des höheren Alters. Doch Diabetes erhöht nicht nur das Risiko, sondern schiebt es auch ca. zehn Jahre nach vorne; sprich, was normalerweise mit 70 oder 80 Jahren passiert, tritt nun schon mit 60 bzw. 70 Jahren ein. Und Herzinsuffizienz ist eine Erkrankung, die mit einer hohen Mortalität einhergeht.

Was bedeutet das für die Therapie des Typ-2-Diabetes?

Ley: Metformin konnte als erstes Antidiabetikum 1998 zeigen, dass es in der Langzeittherapie das kardiovaskuläre Risiko senken kann und gilt daher schon seit geraumer Zeit als Mittel der ersten Wahl. Dies hat die Wissenschaft beflügelt nach weiteren Medikamenten zu forschen, die neben dem Blutzuckerspiegel auch das kardiovaskuläre Risiko senken. Dass die Blutzuckersenkung allein zwar das Risiko für mikrovaskuläre Komplikationen bzw. Organschäden (Auge, Niere, Nerven), nicht aber das für makrovaskuläre Komplikationen (Herzinfarkt, Schlaganfall, Herzinsuffizienz und Tod) senkt, wurde zunehmend evident. Nun konnten in den letzten Jahren endlich weitere Wirkstoffe aus der Klasse der SGLT-2-Hemmer und GLP-1-Analoga eine Senkung des kardiovaskulären Risikos bei Patienten mit Typ-2-Diabetes belegen.

Kommt das auch tatsächlich in der Versorgung an?

Ley: Internationale Behandlungsempfehlungen und Leitlinien sind da schon sehr klar geworden: Es gibt z.B. von der American Diabetes Association (ADA) und der European Association for the Study of Diabetes (EASD) einen gemeinsamen Consensus-Bericht, in dem man diese neuen verfügbaren Therapien sehr prominent abgebildet hat. Sie sind damit für bestimmte Patiententypen direkt nach bzw. zusammen mit Metformin als zweite Wahl empfohlen. In Deutschland ist die Nationale Versorgungsleitlinie für Typ-2-Diabetes, die Medizinern als Entscheidungshilfe bzgl. der angemessenen ärztlichen Vorgehensweise dient, aus dem Jahr 2013 und inzwischen abgelaufen: Das Update wird mit Spannung erwartet.

Es wäre wünschenswert, dass das Update der Nationalen Versorgungsleitlinie die internationalen Empfehlungen aufnimmt. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) hat zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) die neue Evidenz schon in ihre Praxisempfehlungen integriert.

Wie geht der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), der seit 2011 im Rahmen des AMNOG-Verfahrens die gesetzliche Aufgabe hat, für alle neu zugelassenen Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen eine Nutzenbewertung durchzuführen, damit um?

Ley: In den letzten Jahren wurden Studien mit innovativen Wirkstoffen abgeschlossen, die überwältigende Daten in Bezug auf die Senkung kardiovaskulärer Risiken gezeigt haben. Das und die entsprechenden Bewertungen der Wirkstoffe durch die Zulassungsbehörden konnte und hat der G-BA nicht ignoriert. Einige der neuen Substanzen wurden sogar in das Disease Management Programm (DMP) Typ-2-Diabetes aufgenommen. Das ist ein strukturiertes Behandlungsprogramm, das von den gesetzlichen Krankenkassen in Zusammenarbeit mit Ärzten angeboten wird.

Was bedeuten diese neuen Entwicklungen?

Ley: Nun ja: Es gibt inzwischen Medikamente, die mehr können als „nur“ den Blutzucker zu senken. Deswegen wird das die Latte sein, die neue Therapien für Typ-2-Diabetes in Zukunft überspringen müssen.

Verwandte Nachrichten

Anmeldung: Abo des Pharma Fakten-Newsletters

Ich möchte per E-Mail News von Pharma Fakten erhalten: