Krankenkassen fordern von forschenden Pharmaunternehmen „faire“ Preise. Aber was soll das sein? Foto: ©iStock.com/ismagilov
Krankenkassen fordern von forschenden Pharmaunternehmen „faire“ Preise. Aber was soll das sein? Foto: ©iStock.com/ismagilov

Arzneimittelausgaben sind „völlig unauffällig“

Deutschland als Hochpreisland für Arzneimittelinnovationen? Mittlerweile liegen zwei Drittel der deutschen Erstattungsbeträge unter den durchschnittlichen publizierten Preisen der betreffenden Produkte in den europäischen Vergleichsländern. Das zeigen die „AMNOG-Daten 2019“, die der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) kürzlich herausgegeben hat.
© Prof. Dr. Dieter Cassel / Universität Duisburg-Essen
© Prof. Dr. Dieter Cassel / Universität Duisburg-Essen

Seit Einführung der Frühen Nutzenbewertung für neue Medikamente vor über acht Jahren, dem so genannten AMNOG-Verfahren, hat sich auf dem deutschen Arzneimittelmarkt viel verändert. Über die Folgen hat Pharma Fakten ein Interview mit dem Gesundheitsökonomen Prof. Dieter Cassel von der Universität Duisburg-Essen geführt. Er ist Mitautor der „AMNOG-Daten 2019“, die der BPI mit Daten bis Ende 2018 herausgegeben hat.

Prof. Cassel, Sie und ihr Mitautor Prof. Volker Ulrich sprechen von einem „AMNOG-Paradoxon“. Was meinen Sie damit?

Prof. Cassel: Man könnte auch von einem Teufelskreis sprechen, den wir beobachten, seit wir das AMNOG-Verfahren wissenschaftlich begleiten. Je erfolgreicher nämlich der Versuch ist, die Kosten von Arzneimittel-Innovationen durch Preisregulierung zu dämpfen, umso höher werden die Preise der nachfolgenden Produktgeneration sein, die daraufhin gesundheitspolitisch mit einer noch strengeren Regulierung beantwortet werden und somit paradoxerweise den nächsten Preisschub auslösen…

…dem dann wiederum der Versuch folgt, diesen durch administrative Eingriffe wie Preismoratorien und -stopps einzufangen…

Cassel: Genau. Das Problem ist nur, dass dies nicht ohne Konsequenzen bleibt. Denn die auf Kostendämpfung zielenden Preisregulierungen können entsprechende Kürzungen bei den Forschungsbudgets nach sich ziehen. Die Folge könnte eine nachlassende Innovationsdynamik sein, was bedeutet, dass arzneimittel-therapeutische Fortschritte ausbleiben oder sich verzögern. Das aber konterkariert eines der ursprünglichen AMNOG-Ziele. Denn das AMNOG-Verfahren soll nicht nur eine bezahlbare, sondern gleichzeitig auch eine qualitativ hochwertige und innovative Arzneimittelversorgung garantieren.

Hat denn das AMNOG seine Sparziele erreicht?

Cassel: Das kommt darauf an, was man sich anschaut. Blickt man auf die Einsparungen durch die im Zuge des AMNOG-Verfahrens ausgehandelten Rabatte auf die vom Hersteller beim Launch gesetzten Preise, hat es sein Ziel längst erreicht. Allerdings hat dies den Trend zu höheren Launchpreisen nicht stoppen können – wie sich insbesondere bei den Onkologika zeigt. Das hat aber weniger mit dem AMNOG zu tun, sondern ist vielmehr Ausdruck immer besserer Medikamente einerseits und der immer aufwendigeren Forschungsstrategien und administrativen Anforderungen bei der Entwicklung und Vermarktung neuer Therapien andererseits. Denn die daraus resultierenden Kostensteigerungen bei der Forschung, Entwicklung und Vermarktung treffen rein rechnerisch vielfach auf geringere Verordnungsmengen der einzelnen Produkte. So hat die deutliche Zunahme bei der Zulassung von Medikamenten gegen seltene Erkrankungen – hier erleben wir ja zum Glück in den vergangenen Jahren einen regelrechten Boom – zum Trend höherer Launchpreise beigetragen.

Arzt, Foto: © iStock.com/ijeab
Arzt, Foto: © iStock.com/ijeab

Der Boom bei den Orphan-Medikamenten erklärt doch nicht alles?

Cassel: Keineswegs. Hinzu kommen eine immer subtilere Bildung kleinster stratifizierter Patientenpopulationen auch bei häufigen Erkrankungen, die hohen Anteile schlechter oder diffuser Bewertungen und nicht zuletzt eine unzureichende Marktdurchdringung selbst bei Produkten, bei denen ein hoher Zusatznutzen attestiert wurde. Dies alles birgt für die forschenden Unternehmen erhebliche Risiken, die zu höheren Preisforderungen führen und entsprechend höhere Erstattungsbeträge nach sich ziehen. Trotzdem sollte man die Gesamtperspektive nicht aus den Augen verlieren, denn die Entwicklung der Arzneimittelausgaben ist ja völlig unauffällig.

Begründen Sie das bitte.

Cassel: Dazu reichen zwei Zahlen: Der prozentuale Anteil der Arzneimittelausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sowohl an den GKV-Ausgaben als auch am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist über die letzten Jahre hinweg praktisch gleichgeblieben: Er liegt in den fünf Jahren von 2014-2018 im ersten Fall konstant bei rund 17 Prozent und im zweiten unverändert bei 1,2 Prozent. Es gibt also weder eine „Kostenexplosion“ noch ist die Finanzstabilität der GKV gefährdet. 

Trotzdem gilt Deutschland als Hochpreisland.

Cassel: Die Daten zeigen, dass aktuell 66 Prozent der deutschen Erstattungsbeträge unter den durchschnittlichen publizierten Preisen der betreffenden Produkte in den europäischen Vergleichsländern und bei jedem fünften Produkt schätzungsweise sogar unter dem jeweils niedrigsten publizierten Preis innerhalb der EU liegt. So ein Ländervergleich ist nicht ganz einfach und demzufolge auch nicht unumstritten, schon weil die publizierten Preise im Ausland häufig nicht die dort tatsächlich erstatteten sind und dann im Vergleich zu den hiesigen Erstattungsbeträgen zu hoch erscheinen. Dass die Erstattungspreise durch das AMNOG hierzulande tatsächlich unter Druck geraten sind und nun häufiger günstiger als im Ausland sein müssen, zeigt sich daran, dass die Parallelexporte aus Deutschland merklich zugenommen haben. Bereits seit 2013 übersteigt die Zahl der Anmeldungen bei der europäischen Zulassungsbehörde EMA für Parallelexporte aus Deutschland die für Parallelimporte. 2017 war bereits jedes zweite AMNOG-Präparat für Exporte in andere EU-Länder angemeldet. Das macht nur Sinn, wenn man sie dort teurer verkaufen kann. Dessen ungeachtet, bin ich allerdings der Meinung, dass es theoretisch wie praktisch gesehen wohlfahrtsstiftend für alle ist, wenn ein wohlhabendes Land wie unseres mehr für Arzneimittel bezahlt als andere.

Arzneimittel und therapeutischer Fortschritt, Foto: © iStock.com/ismagilov
Arzneimittel und therapeutischer Fortschritt, Foto: © iStock.com/ismagilov

Warum?

Cassel: Eine Preisdifferenzierung nach Wirtschaftskraft bzw. Zahlungsfähigkeit gewährleistet, dass kein Land wegen zu hoher Preise vom therapeutischen Fortschritt ausgeschlossen wird. Sie gilt von daher ökonomisch als international wohlstandsfördernd. Das bedeutet, dass Deutschland für seine Arzneimittel-Innovationen mehr zu zahlen bereit sein muss, als viele seiner europäischen Partnerländer oder praktisch alle Entwicklungs- und die meisten Schwellenländer. Deshalb sind übrigens auch europaweit einheitliche Arzneimittelpreise aus volkswirtschaftlicher Perspektive wenig erstrebenswert. 

Das würde eine deutsche Krankenkasse vermutlich anders sehen…

Cassel: Ja, sicher. Die Schwierigkeiten bei der Vereinbarung von Erstattungsbeträgen beruhen größtenteils auf einem schwer lösbaren Interessenkonflikt. Während die Kassenseite eine innovative und qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung zu Tiefstpreisen verlangt, erwartet die Industrie, dass sie in aller Regel nicht nur die Produktions- und Vertriebskosten, sondern auch die rapide gestiegenen Regulierungs- und Forschungskosten ihrer Innovationen wieder hereinholen kann. Und das sollte den zumeist international aufgestellten forschenden Pharmaunternehmern ökonomisch gesehen in einem Land mit höherem Wohlstand und entsprechend höherer Zahlungsfähigkeit eher gelingen als anderswo.

Wie ließe sich der Konflikt lösen? 

Cassel: Wahrscheinlich würde schon eine sachkundige Debatte helfen. Die sich hartnäckig haltende „Mondpreis“-Diskussion zum Beispiel beruht weitgehend auf dem Missverständnis, dass die Preise und Ausgaben auf dem Generikamarkt zur Messlatte für die Gegebenheiten auf dem Patentmarkt gemacht werden können. Das merkt man immer dann, wenn die Aufregung über einen vermeintlich hohen Preis mit geringen Herstellungskosten begründet wird. Das aber kann nicht funktionieren: Generika können zu einem niedrigen Preis in Höhe der Grenzkosten bepreist werden. Arzneimittel-Neuerungen hingegen müssen auch Deckungsbeiträge für die meist fixen Forschungs- und Entwicklungskosten sowie die Kosten der Markterschließung der nächsten Produktgeneration abwerfen, solange sie noch patentgeschützt sind und der Preiswettbewerb auf dem Generikamarkt noch nicht wirksam ist. Die Preise dienen schließlich auch als Signal für die Rentabilität der heutigen Investitionen in die Arzneimittel-Innovationen von morgen.

Patientin nimmt Tablette. Foto: © iStock.com/fizkes
Patientin nimmt Tablette. Foto: © iStock.com/fizkes

Was meinen Sie?

Cassel: Ich persönlich bin der Meinung, dass Arzneimittel-Innovationen ihre eigene angebots- und nachfrageseitig getriebene Preisdynamik entfalten müssen, wenn die Pipeline für Neuentwicklungen nicht austrocknen soll. Aus einer gesellschaftlichen Perspektive ist es langfristig meist nicht zu teuer, über immer wirksamere Präparate – beispielsweise im Kampf gegen Krebs und Demenz – zu verfügen. Richtig teuer ist es meiner Meinung nach, die Waffen gegen Krankheit und krankheitsbedingte Leiden aus Kostengründen zu strecken – und zwar sowohl für den einzelnen Patienten, als auch für die Gesellschaft insgesamt.

Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. (BPI) (Hrsg.): AMNOG-Daten 2019: Funktionsweise und Ergebnisse der Preisregulierung für neue Arzneimittel in Deutschland; Autoren: Prof. Dr. Dieter Cassel, Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr. Volker Ulrich, Universität Bayreuth, Stand 31. Dezember 2018

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