„Schutzimpfungen retten jedes Jahr weltweit über 6 Millionen Menschen das Leben“, erklärte Prof. Hans-Martin Jäck von der Deutschen Gesellschaft für Immunologie (DGfI) in seiner Begrüßungsrede. Dennoch habe das Interesse an Impfungen in vielen Ländern nachgelassen, auch in Deutschland. Die DGfI hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, „die Bevölkerung über Chancen und Risiken von Impfungen zu informieren“ – unter anderem durch Vorträge und Podiumsdiskussionen wie am 9. September in der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität.
Prof. Reinhard Burger, ehemaliger Präsident der Robert-Koch-Instituts, nannte in seinem Impulsvortrag einige Beispiele für den Erfolg von Impfungen: So gab es in den 1980er Jahren weltweit noch über 350.000 Fälle von Kinderlähmung – derzeit sind es nur noch rund 50 Fälle in Afghanistan, Pakistan und Nigeria. Grund zur Entwarnung gebe es trotzdem nicht: „Nur einer von 200 Polio-Infizierten hat Symptome, aber jeder ist infektiös“, so Burger – wenn die Impfbereitschaft zu sehr nachlasse, könne sich die Krankheit schnell wieder ausbreiten. Durch Impfungen komplett ausgerottet werden konnten bislang nur die Pocken, aber auch hier gebe es einen Wermutstropfen: „Da heute nicht mehr gegen Pocken geimpft wird, konnten sich in letzter Zeit die so genannten Kuhpocken ausbreiten, die von Kuschelratten übertragen werden.“
Burger ging auch auf das Risiko von Impfschäden ein – die Angst davor ist ein häufiger Grund für die Verweigerung von Impfungen. Beispiel Masern: „Bei weniger als einer von einer Million Impfungen kommt es zu schweren Impfschäden“, so Burger, „aber einer von 1000 Masern-Infizierten entwickelt eine Enzephalitis, eine Gehirnentzündung, die in jedem vierten Fall tödlich verläuft.“ Der potenzielle Nutzen übersteigt also das potenzielle Risiko bei weitem. Vor der Einführung der Masern-Impfung gab es weltweit rund zwei Millionen Todesfälle pro Jahr, im Jahr 2017 waren es noch 110.000. Allerdings sinken vielerorts die Impfquoten, global sind derzeit nur 85 Prozent der Kinder gegen Masern geimpft – zu wenig, um das Ziel einer kompletten Elimination tatsächlich erreichen zu können. Burger hält deshalb das Masernschutzgesetz für sinnvoll, über das der Bundestag nach der Sommerpause beraten wird – und das in seiner derzeitigen Fassung eine Masern-Impfpflicht vorsieht.
Nutzen versus Risiko
Eine solche Impfpflicht stand im Mittelpunkt der folgenden Podiumsdiskussion. Dabei stand Reinhard Burger weitgehend allein mit seiner Aussage: „Ich habe bis vor wenigen Jahren eine Impfpflicht für den falschen Weg gehalten – aber inzwischen bin ich dafür.“ Die Ärztin und Autorin Natalie Grams meinte hingegen: „Ich setze lieber auf die Kraft der Argumente als auf Zwang.“ Jan Oude-Aost von der Gesellschaft zur Wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften in Dresden ging noch weiter: „Ich finde eine Impfpflicht ärgerlich, denn sie erschwert es, aufzuklären.“ Prof. Fred Zepp, Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO), pflichtete ihm bei: „Eine Impfpflicht kann nur die Ultima Ratio sein, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind – die Menschen wollen informiert werden, nicht bevormundet.“
Und selbst Ministerialdirigentin Gabriele Hartl vom Bayerischen Gesundheitsministerium ging auf Distanz zu Jens Spahn: „Ich persönlich glaube, überzeugen ist besser als Zwang. Wir begleiten das Gesetzgebungsverfahren konstruktiv und kritisch.“
Moralische Impfpflicht
STIKO-Mitglied Prof. Klaus Überla plädierte für eine moralische Impfpflicht, die sich von ganz alleine ergebe, wenn Impfhindernisse beseitigt würden. So müsse man etwa den Zugang erleichtern. Wie? Reinhard Burger schlug dafür Termin-Erinnerungen vor, Jan Oude-Aost plädierte für Impfungen in der Schule und Social Media Kampagnen. Und Prof. Jan Leidel, ehemaliger STIKO-Vorsitzender, hält es für ein Unding, dass Kinderärzte die Eltern nicht mitimpfen dürfen.
Das sieht auch Fred Zepp so: „Alle Ärzte müssen impfen dürfen – sie sollten nicht aus standesrechtlichen Gründen daran gehindert werden.“ Zepp, Grams und Oude-Aost setzten sich außerdem für verstärkte Informationen über soziale Medien ein. „Wir haben wunderbare Plakataktionen“ so Zepp, „aber die Menschen sind woanders.“ Prof. Isabelle Bekeredjian-Ding vom Paul-Ehrlich-Institut in Langen, das für die Bewertung und Chargenfreigabe von Impfstoffen zuständig ist: „Wir haben jetzt eine Social Media Managerin – und setzen auch sonst einiges in Bewegung, um in der Öffentlichkeit präsenter zu sein.“ Grundsätzlich war sich die Diskussionsrunde darin einig, dass soziale Medien mehr und besser genutzt werden müssen, um sachliche Informationen übers Impfen zu verbreiten.
Moderatorin Jeanne Turczynski vom Bayerischen Rundfunk brachte zwar keinen digitalen Impfpass ins Spiel, aber immerhin ein Impfregister: „Wäre das sinnvoll?“ Gabriele Hartl: „Eine gute Datenerfassung ist immer gut. Das wäre schon ein Weg.“ Auch Fred Zepp hält ein solches Register für sinnvoll, da es eine Erfolgskontrolle ermögliche.
Natalie Grams fasste die Erkenntnisse aus der Diskussion mit den Worten zusammen: „Wir müssen die Menschen davon überzeugen, dass Impfungen etwas Gutes sind. Wir müssen das Thema positiv besetzen.“ Erreicht werden könne dies nicht alleine durch wissenschaftliche Fakten, sondern sie müssten eingebettet sein in Geschichten, die es zu erzählen gilt. Geschichten, die so anschaulich sind wie der Aushang, den Reinhard Burger bei einem Berliner Kinderarzt entdeckte. Dort stand: „Sie müssen nicht alle ihre Kinder impfen. Nur die, die Sie behalten wollen.“