Patentschutz aufweichen  Zwangslizenzen vergeben  um die Produktion von Corona-Impfstoffen zu beschleunigen? Das ist keine Lösung. Foto: ©iStock.com/RossHelen
Patentschutz aufweichen Zwangslizenzen vergeben um die Produktion von Corona-Impfstoffen zu beschleunigen? Das ist keine Lösung. Foto: ©iStock.com/RossHelen

Krebs in 15 Jahren heilbar?

Ist Krebs in 15 Jahren heilbar? Mit dieser Frage sahen sich vier Experten beim 18. Europäischen Gesundheitskongress in München konfrontiert. Insbesondere der Krebsforscher Prof. Dirk Jäger fand darauf eine eindeutige Antwort.

„Ich bin ja skeptisch gegenüber solchen Sprüchen“, machte Moderator Prof. Herbert Rebscher gleich zu Beginn der Veranstaltung im Hilton Park Hotel klar, „aber gut, wir wollen heute diesen reißerischen Titel mit etwas Substanz unterlegen.“ Aus medizinischer Sicht dürfte dafür kaum jemand besser geeignet sein als Prof. Dirk Jäger, Leiter der Abteilung Medizinische Onkologie am Universitätsklinikum Heidelberg. Auch er mag keine Heilsversprechen, zumal „wir viele gutartige Erkrankungen auch nicht heilen können“ – etwa einen harmlosen Schnupfen. Aber, und das war der entscheidende Punkt in Jägers Impulsvortrag, „es gibt im Moment Bereiche, in denen die Krebsforschung geradezu explodiert.“

„Das Immunsystem spielt in der Krebsforschung eine immer wichtigere Rolle.“ Foto: ©Christoph Burgstedt - iStock
„Das Immunsystem spielt in der Krebsforschung eine immer wichtigere Rolle.“ Foto: ©Christoph Burgstedt – iStock

So zum Beispiel in der medikamentösen Therapie mit „zielgerichteten Substanzen“, so genannten Immuntherapeutika. „Das Immunsystem“, so Jäger, „spielt in der Krebsforschung eine immer wichtigere Rolle.“ Im Gegensatz dazu gehe das Zeitalter der „Standardtherapien“ allmählich zu Ende: „Wir erkennen immer mehr, dass es nicht richtig ist, wenn wir unsere Therapieentscheidungen auf der Basis von erschreckend wenigen Informationen treffen, die im Wesentlichen auf Histologie und Bildgebung beruhen.“ So werde etwa den Patienten mit einem Dickdarm-Karzinom grundsätzlich eine Chemotherapie empfohlen, „obwohl wir wissen, dass nur 17 Prozent davon profitieren.“ 83 Prozent profitieren nicht, entweder weil der Krebs sich auch ohne Chemotherapie behandeln ließe oder weil sich trotzdem Metastasen bilden.

Die Power des Immunsystems nutzen

Statt einer Therapie nach dem Gießkannenprinzip gehört nach Jägers Überzeugung der personalisierten Medizin die Zukunft: „Wir werden in letzter Konsequenz für jede Tumorerkrankung eine individuelle Therapie designen. Dabei werden wir die Power des Immunsystems gezielt gegen Tumore einsetzen.“ In jedem von uns entstünden täglich hunderte von Tumorzellen, die unser Immunsystem erkenne und abtöte – erst, wenn das Immunsystem unterlaufen werde, könnten Tumore entstehen.

Schon heute werden bestimmte Krebserkrankungen mit so genannten Checkpoint-Inhibitoren bekämpft. Diese Antikörper wirken nicht gegen Krebszellen direkt; sie greifen in die Steuerung der Immunantwort gegen Tumoren ein – an den „Immun-Checkpoints“. Sie werden sehr erfolgreich bei der Behandlung von schwarzem Hautkrebs eingesetzt. Jeder fünfte Hautkrebspatient spricht auf diese Therapie an und erreicht eine Überlebenszeit von mehr als zehn Jahren.

„Künstliche Immunzellen“ - "Eine kleine Revolution in der Onkologie". Foto: ©iStock.com/RossHelen
„Künstliche Immunzellen“ – “Eine kleine Revolution in der Onkologie”. Foto: ©iStock.com/RossHelen

„Das ist schon eine kleine Revolution in der Onkologie“, sagt Dirk Jäger. Außerdem würden künftig zunehmend „künstliche Immunzellen“ wichtig, die in einem sehr aufwendigen, aber effektiven Verfahren entstehen: „Man muss dazu dem Patienten Immunzellen entnehmen, sie im Reagenzglas ansetzen und genetisch verändern, etwa indem man einen künstlichen Rezeptor einbaut. Dann gibt man diese modifizierten eigenen Immunzellen als einmalige Infusion an den Patienten zurück. Auf diese Weise können wir heute 80 Prozent der Fälle von kindlicher Leukämie heilen, bei den Erwachsenen sind es über 50 Prozent.“

Die Zukunft der Onkologie könnte und sollte nach Dirk Jägers Worten so aussehen:

  • Weniger Standardtherapien
  • Individualisierte Therapien für immer mehr Krebspatienten
  • Medikamente, die für jeden einzelnen Patienten individuell „designed“ werden
  • Immunzellen werden zunehmend in der Krebstherapie eingesetzt
  • Es wird komplexe Diagnoseplattformen geben
  • Therapien werden mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz simuliert, bevor der Patient sie erhält

Die beschwerlichen Wege der Gegenwart

Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft, kam in seinem Vortrag auf die Gegenwart zurück, in der jeder Krebspatient „einen irre langen Weg zurücklegen muss – etwa vom Hausarzt zum Facharzt zum nächsten Facharzt, irgendwann vielleicht zum onkologischen Zentrum.“ Solche Zentren müssten gefördert werden, denn: „Was Professor Jäger beschrieben hat, ist nicht überall machbar.“ Und: „Das Leistungsrecht muss sich der Entwicklung von Innovationen anpassen.“

Mit Dr. Djork-Arné Clevert kam ein Wissenschaftler zu Wort, der als Senior Research Scientist in der Forschungsabteilung von Bayer arbeitet. Er berichtete von Algorithmen, mit deren Hilfe die Arzneimittelforschung schneller und effizienter werden kann, so etwa bei der Suche nach neuen Wirkstoffen. „Was vorher sechs Monate gedauert hat“, so Clevert, „können wir jetzt in vier Tagen erledigen.“ Mit seinem Team hat Clevert „eine neue Sprache der Chemie entwickelt – wir nutzen Konzepte aus der Sprachwissenschaft, um eine chemische Struktur in eine andere chemische Struktur zu übersetzen. So können wir Moleküle optimieren und sie zum Beispiel in kurzer Zeit in eine löslichere Struktur überführen.“ Maschinelles Lernen trage dazu bei, Moleküle wesentlich schneller zu entwickeln und, so Clevert, „eine neue Ära der Medikamentenentwicklung einzuläuten.“

Was der Fortschritt kostet

"Wenn wir präziser und effektiver werden, dürfen neue Behandlungsformen ein bisschen teurer sein.“ - Prof. D. Jäger. Foto: ©iStock.com/AndreyPopov
“Wenn wir präziser und effektiver werden, dürfen neue Behandlungsformen ein bisschen teurer sein.“ – Prof. D. Jäger. Foto: ©iStock.com/AndreyPopov

Doch wie soll eine solche neue Ära in der Krebstherapie finanziert werden? Diese Frage konnte Dr. Sabine Richard vom AOK-Bundesverband nicht beantworten. Sie gab aber zu bedenken: „Wir müssen schon überlegen: Was sind wir bereit, für den Fortschritt zu bezahlen?“ Herbert Rebscher fügte hinzu, dass in der Krebstherapie der Zukunft nicht so sehr Produkte, sondern Behandlungsprozesse finanziert werden müssten. Dirk Jäger macht sich „keine Sorgen um die Kostenerstattung, denn es gibt auch ein riesiges Einsparpotenzial. Wir haben heute eine extrem große Anzahl an nicht wirksamen Chemotherapien. Wenn wir präziser und effektiver werden, dürfen neue Behandlungsformen ruhig ein bisschen teurer sein – letztendlich sparen wir trotzdem Geld damit.“

Wird Krebs also in 15 Jahren heilbar sein? Prof. Jäger rollt bei dieser Frage mit den Augen: „Wir brauchen zunächst einmal eine größere Freiheit, um Innovationen an die Patienten zu bringen.“ Erst, wenn dieses „politische Problem“ gelöst sei, könne man Prognosen über den Stand der Krebstherapie in 15 Jahren abgeben.

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