Angefangen habt ihr vor fast zehn Jahren – eine kleine Gruppe von Schülerinnen und Schülern hat AIDS-Schleifen verteilt. Jetzt kommst du gerade von einer Reise aus Japan und Südkorea zurück. Was ist passiert?
Roman Malessa: Eine ganze Menge – Aus unserer kleinen Schülerinitiative, die eigentlich ‚nur’ Spenden für den Welt AIDS Tag sammeln wollte, ist mittlerweile eine anerkannte internationale Organisation geworden, die weltweit Jugendliche erreicht. Heute kooperieren wir mit verschiedenen UN-Organisationen, großen Unternehmen und vielen regionalen Partnern, um Jugendliche weltweit auf Augenhöhe zu erreichen. In Japan hatten wir beispielsweise die Möglichkeit am Rande des G20-Gesundheitsminister-Treffens mit verschiedenen Delegationen zu sprechen, unsere internationale Agenda vorzustellen und der Jugend eine Stimme in einem Rahmen zu geben, wo Jugendliche eigentlich nie zu Wort kommen.
Auf der anderen Seite legen wir seit zwei Jahren einen großen Fokus auf innovative Lösungen, um zukünftig noch mehr Jugendliche zu erreichen und aufzuklären. Aktuell arbeiten wir hier an einem vielversprechenden Projekt, dass zukünftig für Millionen Jugendliche weltweit, kostenlos und zu jeder Zeit verfügbar sein wird. Auch aus diesem Grund, sind wir aktuell regelmäßig in Asien, um uns zu vernetzen und weiterzubilden. Während man in Europa häufig eine Angstdebatte führt, kann in Ländern wie Südkorea und Japan die Digitalisierung gar nicht schnell genug gehen. Auch hier lohnt sich ein differenzierter Blick, aber inspirierend ist es in jedem Fall.
Heute seid ihr ein großer Player – Ihr wart offizieller Partner der Internationalen AIDS-Konferenz in Amsterdam, macht Kampagnen, die auf vier Kontinenten laufen. Haben sich die Schwerpunkte eurer Arbeit in den vergangenen Jahren verändert?
Malessa: Nicht verändert, aber erweitert. Ganz grundsätzlich hat sich natürlich die tägliche Arbeit in den letzten zehn Jahren stark verändert. Wir sitzen beispielsweise nicht mehr im Stuhlkreis in unserem Schülercafé und diskutieren die nächsten Aktionen, sondern arbeiten heute mit einem internationalen Team und haben Team-Calls über viele Zeitzonen hinweg. Das Entscheidende ist aber, dass sich der Kern unserer Arbeit lediglich erweitert hat. Unser Ziel ist es auch heute noch Jugendliche aufzuklären und der Verbreitung von sexuell übertragbaren Krankheiten ein Ende zu setzen. Hier haben wir früh gelernt, dass es vor allem darum geht, Relevanz bei Jugendlichen für sexuelle Gesundheit zu schaffen.
Beispielsweise haben viele Jugendliche ganz konkrete Vorstellungen davon, für welche Gruppe oder Personen in ihrer Gesellschaft HIV/AIDS und andere sexuell übertragbare Krankheiten relevant sind. Eines vereint sie aber alle — sie empfinden es als nicht relevant für sich selbst und das wollen wir ändern. Wir sind die Generation, in der sexuell übertragbare Krankheiten keinen Platz mehr haben und dafür müssen wir erst Relevanz schaffen und anschließend aufklären.
Es gibt supranationale Behörden wie UNAIDS oder große Initiativen, wie die von Bill und Melinda Gates, denen große Beträge zur Verfügung stehen, um Aufklärung zu betreiben. Wo siehst du euren Beitrag, um die AIDS-Epidemie zu beenden? Oder knapper: Was könnt ihr, was andere nicht können?
Malessa: Junge Menschen direkt auf Augenhöhe ansprechen und aufklären. Man muss einfach zur Kenntnis nehmen, dass sich weltweit viele Jugendliche von den existierenden Aufklärungsangeboten nicht angesprochen fühlen und die Nutzung von Kondomen fast überall zurück geht. Das wir unter diesen Umständen teils dramatisch steigende Neuinfektionsraten bei sexuell übertragbaren Krankheiten sehen, ist da wenig verwunderlich. Nicht, dass wir uns falsch verstehen – UNAIDS und die Bill and Melinda Gates Foundation leisten hier einen unglaublich wertvollen Beitrag und wir sind stolz sie als starke Verbündete an unserer Seite zu haben. Ich persönlich glaube aber auch, dass die Frage danach, was unser konkreter Beitrag als NGO ist, eine ganz entscheidende ist. Wir haben seit unserer Gründung den Anspruch, dass unsere Arbeit – auch wenn sie einen social cause verfolgt – immer auch einen ganz konkreten und möglichst direkt messbaren Output hat. Ich persönlich halte es für auch höchst problematisch, dass bei vielen Organisationen immer wieder die gute Intention als Entschuldigung für den nicht messbaren Output oder den ineffizienten Ressourceneinsatz vorgetragen wird. Um auf Ihre Frage zurückzukommen — Wir können hier ganz selbstbewusst antworten, dass wir einen einzigartigen Zugang zu Jugendlichen haben und ihre Sprache sprechen. So werden wir die fachliche Kompetenz von UNAIDS nie übertreffen, aber das ist auch nicht unser Anspruch. Mit ihrer fachlichen Kompetenz und unserer Zielgruppenansprache leisten wir gemeinsam einen wertvollen Beitrag.
Was muss passieren, um AIDS zu beenden? Und ist das Ziel der Weltgesundheitsorganisation realistisch, das bis 2030 zu schaffen? Das sind nur noch zehn Jahre…
Malessa: Genau dieser Sache gehen wir gerade auf den Grund. Im Sommer dieses Jahres haben wir bei der IAS2019 Conference in Mexico City unsere neue globale Kampagne vorgestellt. Diese wird über ein Jahr auf verschiedenen Online- und Offline-Channels sowie Events in über 20 Städten (z.B. in Manila, Nairobi und Boston) präsentiert. Im Mittelpunkt steht der Satz „We could end AIDS, if…“ („Wir könnten AIDS beenden, wenn…“), der ein Umdenken bei Entscheidungsträgern auf der ganzen Welt bewirken soll. Dazu liefern Jugendliche aus der ganzen Welt ihre Ideen und geben der Kampagne ein Gesicht.
Ihr Finale findet die Kampagne bei der Internationalen AIDS Konferenz 2020 in San Francisco, bei der wir als Youth against AIDS wieder mehreren hundert Jugendlichen aus der ganze Welt die Chance geben werden in unserem Youth Headquarter dabei zu sein. Ich persönlich glaube, dass die sexuelle Aufklärung von Jugendlichen einer der größten Hebel ist. Am besten wäre eine digitale Lösung – eventuell kenne ich sogar eine Organisation, die daran gerade mit starken Partnern arbeitet.
Um AIDS erfolgreich zu bekämpfen, muss auch das politische Umfeld stimmen. Andererseits – das beklagte u. a. Prof. Rockstroh im Pharma Fakten-Interview – nehmen in vielen Ländern Tendenzen von Stigmatisierung und Kriminalisierung HIV-positiver Menschen eher wieder zu. HIV-Bekämpfung ist deutlich mehr als Kondome verteilen – es ist auch Werbung für ein bestimmtes Gesellschaftsmodell, oder?
Malessa: Ohne jede Frage fördern liberale, nach vorne gerichtete und aufgeklärte Gesellschaften den Fortschritt – auch in Bezug auf die sexuelle Gesundheit ihrer Jugendlichen. Wenn beispielsweise meine Sexualität der Grund für Angst, Ausgrenzung und Stigma ist, dann ist meine sexuelle Gesundheit eines meiner vermeintlich kleinsten Probleme. Entstigmatisierung ist ein wichtiges Stichwort – da spricht unser Beiratsmitglied Jürgen Rockstroh einen wichtigen Punkt an. Wir sprechen mit unserer Aufklärungsarbeit beispielsweise alle Jugendlichen gleichermaßen an, klären sie auf und beantworten ihre Fragen. Wir sind davon überzeugt, dass wir das Stigma nur überwinden werden, wenn wir alle gemeinsam in den Dialog gehen und verstehen, dass sexuelle Gesundheit und auch die Prävention von sexuell übertragbaren Krankheiten uns alle etwas angeht. Mehr miteinander und weniger übereinander reden – das bringt uns voran und baut Stigma ab.
Weiterführende Links:
https://jugend-gegen-aids.de/
https://www.youth-against-aids.org/