Die ganze Welt zittert mit. Wird es eine Therapie bis zur Zulassung schaffen, die Alzheimer verhindert, stoppt, verzögert oder gar heilt? Es ist ein Auf und Ab mit der Arzneimittelforschung.
Ein Beispiel: Ein Wirkstoff, der als Hoffnungsträger im Kampf gegen die Erkrankung galt, rauchte im Frühjahr 2019 plötzlich ab. Der Grund: Eine frühe Zwischenanalyse der Studiendaten brachte ernüchternde Ergebnisse hervor – das Forschungsprogramm wurde abgebrochen. Ein paar Monate später dann die Kehrtwende: Der Arzneimittelkandidat soll 2020 nun doch zur Zulassung bei der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA eingereicht werden. Anlass dazu geben neue Studiendaten, die zum Zeitpunkt der Zwischenanalyse noch nicht zur Verfügung standen. Aus ihnen geht hervor, dass mit der längerfristigen, hochdosierten Gabe des Wirkstoffes eine Verlangsamung des Krankheitsverlaufs erreicht werden kann.
Sollte es das Medikament tatsächlich bis zur Zulassung schaffen, wäre es die erste Therapie, die auf einen der grundlegenden Mechanismen von Alzheimer Einfluss nehmen kann.
Große Angst vor dem Vergessen
Für viele Menschen weltweit wäre das wohl ein Grund für – zumindest verhaltenes – Aufatmen. Auch wenn eine Heilung der Erkrankung damit noch lange nicht erreicht ist. Doch die Angst vor dem Vergessen ist groß: Wie die Organisation „Alzheimer’s Disease International“ in einer Umfrage unter fast 70.000 Menschen aus 155 Ländern und Regionen herausgefunden hat, machen sich fast 80 Prozent der Allgemeinbevölkerung Sorgen, dass sie eines Tages eine Demenz entwickeln könnten. Auf die Pflege durch andere Menschen ist eben keiner gerne angewiesen.
Aber Schritt für Schritt erlangen die Wissenschaftler immer tiefergehende Erkenntnisse über die Erkrankung. Alzheimer, die häufigste Form der Demenz, wird inzwischen als Kontinuum angesehen. Das heißt: Sie beginnt mit einer langen, „stillen“ Phase, die ohne Symptome verläuft. Im Gehirn finden erste Veränderungsprozesse statt: So gilt etwa die Ablagerung der Proteine Beta-Amyloid und Tau im Gehirn als charakteristisch für die Erkrankung. Es können zwanzig oder mehr Jahre vergehen, bis erste leichte Leistungsverschlechterungen sichtbar werden („mild cognitive impairment“, MCI) und es schließlich in eine Demenz übergeht.
Um in den Krankheitsverlauf einzugreifen, bevor bleibende, kognitive Schäden entstanden sind, muss eine Therapie daher möglichst früh beginnen. Dieser Überzeugung folgt auch Aducanumab – jener Wirkstoff, der 2020 zur Zulassung eingereicht werden soll.
Alzheimer-Therapie erfordert neue Weichenstellungen
Doch die Herausforderung ist, Alzheimer-Patienten zu finden, die (äußerlich erkennbar) noch keine sind. Dazu braucht es tiefgehendes Knowhow und die notwendige Infrastruktur.
Genau das könnte laut der Forschungsorganisation „RAND Corporation“ zu einem Problem werden. Sie hat in einer von dem Biotechnologie-Unternehmen Biogen gesponserten Studie untersucht, inwieweit die Gesundheitssysteme Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Spaniens, Schwedens und des Vereinigten Königreichs auf den Fall, dass eine krankheitsmodifizierende Therapie auf den Markt kommt, vorbereitet sind. Eine große Zahl an Menschen mit MCI – ein potenzielles, frühes Anzeichen von Alzheimer – müsste laut RAND dann von Spezialisten untersucht werden; die diagnostische Testung sowie Behandlung der Betroffenen wären notwendig – um ein Fortschreiten der Erkrankung in das Stadium der Demenz zu verzögern, bestenfalls zu verhindern.
Frühe Diagnose und Behandlung: einige Hürden
„Der Bericht schätzt, dass ein Mangel an Kapazitäten den Zugang zu Untersuchung und Behandlung für etwa zwei Jahrzehnte nach der Zulassung einer Alzheimer-Therapie beschränken würde. […] Die Analyse untersuchte den Fall, dass eine Therapie ab 2020 zugelassen ist und dass das Screening 2019 beginnen würde“, heißt es in einer RAND-Pressemitteilung. Eine nicht ausreichende Zahl an Fachärzten, die in der Früherkennung von Alzheimer geschult sind, oder mangelhafte Kapazitäten zur Behandlung der Diagnostizierten führen demnach zu langen Wartezeiten.
„Das erste Jahr ohne Wartezeiten wäre in Deutschland 2030, in Frankreich 2033, in Schweden 2036, in Italien 2040, im Vereinigten Königreich 2042 und in Spanien 2044“, lautet das Ergebnis. Von 2020 bis 2044 „könnten in den sechs Ländern eine Million Patienten mit leichter kognitiver Beeinträchtigung [MCI] eine Alzheimer-Demenz entwickeln, während sie auf der Warteliste stehen.“ RAND möchte daher eine Diskussion unter den verschiedenen Interessenvertretern und Entscheidungsträgern anregen, damit sie mögliche Hürden auf dem Weg zu früher Diagnose und Behandlung rechtzeitig angehen können.
Lösung im Kampf gegen Alzheimer: neue Arzneimittel
Aktuell leben allein in Deutschland 1,7 Millionen Menschen mit einer Demenz-Erkrankung. Weltweit sind es laut des „World Alzheimer Report 2019“ über 50 Millionen – etwa zwei Drittel davon sind von Alzheimer betroffen. Experten gehen davon aus, dass sich diese Zahl bis 2050 verdreifacht. Und auch in Deutschland könnten es laut der Deutschen Alzheimer Gesellschaft dann drei Millionen sein. Das ist nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Gesundheitssysteme eine enorme Herausforderung. Der Mediziner Michael Rosenblatt, ein Wissenschaftler mit Harvard- und Industrie-Background, schrieb bereits 2017 in einem Beitrag für die Fachzeitschrift „The New England Journal of Medicine“: „Es gibt nur eine Lösung […]: Neue Arzneimittel zu entwickeln, die die Krankheit stoppen, hinauszögern, verhindern oder heilen.“
Mit Aducanumab scheint nun eine krankheitsmodifizierende Therapie zum Greifen nah. Noch wird die Frage, ob es der Wirkstoff zur Zulassung schafft, kontrovers diskutiert. Aber die Hoffnung bleibt. Zumal die Entwicklung neuer Alzheimer-Medikamente in der Industrie „seit vielen Jahren hohe Priorität“ hat, wie es seitens des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) im Oktober 2019 heißt: „Allein 12 Mitgliedsunternehmen des vfa erproben Mittel in Studien oder forschen an weiteren Medikamenten in einem ihrer Forschungslabors. Dazu kommen weitere Unternehmen weltweit.“ Einige davon befinden sich bereits in der letzten Phase der klinischen Erprobung (Phase III). Die Arzneimittelkandidaten verfolgen verschiedene Ansätze: Darunter sind etwa Antikörper, die sich gegen Beta-Amyloid oder gegen Tau richten.