Professor Otis W. Brawley, Onkologe an der John-Hopkins-Universität, schätzt sich selbst als einen eher zurückhaltenden Beobachter ein. „Ich widerstehe dem allgemeinen Gruppendenken in der Onkologie, das jeden kleinen Fortschritt zu einem gewaltigen Durchbruch erklärt.“ Bei Krebs, so schreibt er in einem Editorial von The Cancer Letter, hätten selbst spärliche Informationen oft gleich „zu Tänzen auf den Straßen geführt.“ Aber angesichts der neuen Zahlen der ACS erklärt er: „Das ist groß, real und unbestreitbar.“
Die renommierte Organisation, dessen Ziel es seit 1913 ist, Krebs als ein Hauptproblem öffentlicher Gesundheit aus der Welt zu schaffen, hat die neuesten Zahlen vorgelegt. In dem Artikel „Cancer Statistics 2020“ schreibt sie:
- Seit dem Allzeithoch im Jahr 1991 sind die Krebssterberaten kontinuierlich gefallen. Starben in den USA 1991 pro 100.000 noch rund 215 Menschen an den Folgen ihrer Krebserkrankung, waren es 2017 rund 152.
- Das ist eine Reduktion um 29 Prozent. Es entspricht 2,9 Millionen Krebstoten weniger, die durch die Fortschritte in der Medizin seitdem verhindert werden konnten. Diese Zahlen sind altersadjustiert; soll heißen: der Alterungseffekt, der mit höheren Krebsraten einhergeht, ist herausgerechnet, um den Fortschritt zeigen zu können (s. dazu Pharma Fakten).
- Der Fortschritt ist getrieben durch den langfristigen Rückgang bei den vier führenden Krebsarten: Lungen-, Darm-, Brust- und Prostatakrebs.
- Gerade beim Lungenkrebs sind die Fortschritte deutlich erkennbar: Allein zwischen 2013 und 2017 fielen die Todesraten um fünf (Männer) bzw. vier Prozent (Frauen).
- Dies, und auch die immer besseren Behandlungsmöglichkeiten beim Melanom, haben den Statistikern den besten Wert beschert, der in einem Jahr je gemessen wurde: Die Gesamtsterblichkeit als Folge von Krebs reduzierte sich von 2016 auf 2017 um 2,2 Prozent.
Fast das gesamte 20. Jahrhundert war charakterisiert durch die stetige Zunahme der Krebssterblichkeit – „vor allem durch die rapide Zunahme von Lungenkrebstoten unter Männern als Folge der Tabak-Epidemie“, wie es in „Cancer Statistics“ heißt. Das änderte sich erst 1991 – seitdem gehen die Raten zurück; bei Männern haben sie sich halbiert. Es ist das Ergebnis einer restriktiveren Politik gegenüber Tabakkonsum und mehr Aufklärung – beides führt dazu, dass die Menschen weniger rauchen. Und auch frühere und bessere Diagnosen haben die Aussichten dieser Patienten verbessert.
Lungenkrebs: der „widerspenstige“ Tumor
Prof. Brawley sieht allerdings einen weiteren Faktor: neue Behandlungsmöglichkeiten. Als Onkologe mit dreißigjähriger Erfahrung habe er die Zeiten erlebt, in denen es nur wenig Fortschritte gab: „Wir sprachen von Lungenkrebs als dem ´widerspenstigen` Tumor.“ Bessere Bildgebung und Bestrahlung, erfolgreichere Chirurgie und neue Medikamente haben diese Situation verändert. Allein gegen Lungenkrebs wurden in den USA in den vergangenen zwei Jahrzehnten rund 30 neue Medikamente zugelassen.
Viele davon sind dort nach einem beschleunigten Zulassungsverfahren („Accelerated Approval Program“) eingeführt worden. Es gilt seit 1992. Die US-Zulassungsbehörde FDA ermöglicht es für Medikamente, die sich gegen schwer behandelbare und lebensbedrohliche Krankheiten richten und bei denen das klassische Studiendesign einer randomisierten kontrollierten Studie (RTC) an seine Grenzen stößt. Dieses arbeitet in der Regel mit einer Kontrollgruppe (sie bekommt ein Placebo) und so genannten harten Endpunkten – bei einer Krebserkrankung ist das das Gesamtüberleben.
Krebs: Erfolg einer modifizierten Zulassungsstrategie
Dies sei auch immer noch der „Goldstandard“, wie Prof. Brawley betont, aber gerade bei vielen Krebserkrankungen würden die Studien länger laufen, als es vor dem Hintergrund der Patienten mit potenziell tödlichen Erkrankungen und der damit verbundenen Lebenserwartung ethisch vertretbar wäre. Auch die Auffächerung der Patientengruppen nach verschiedenen molekularen Treibern eines Tumors ist für die Bewertung von Medikamenten eine Herausforderung geworden. Sie führt zu immer kleineren Patientengruppen, was die statistischen Aussagen einer placebo-kontrollierten klinischen Studie zumindest verwässern kann.
Mit dem beschleunigten Zulassungsverfahren (das gibt es auch in Europa) geht man deshalb einen anderen Weg. Man verlässt sich in solchen Fällen – zumindest vorläufig – auf intermediäre Endpunkte. Es sind Endpunkte, „die einen klinischen Nutzen vorhersagen, aber selbst keinen klinischen Nutzen messen“, wie die FDA schreibt. Im Fall von Krebs sind es Surrogat-Parameter wie die Ansprechrate oder das progressionsfreie Überleben. Die Ärzte gehen davon aus, dass z. B. eine hohe Ansprechrate ein Hinweis ist, dass sich am Ende auch das Gesamtüberleben verbessern wird.
US-Präsident Trump bekommt Gegenwind
Die neuen Medikamente bekommen aufgrund dieser Daten sozusagen einen Vertrauensvorschuss. Damit stehen sie den Patienten früher zur Verfügung als im Falle eines regulären Zulassungsprocederes. Die forschenden Unternehmen müssen diesen schnelleren Zugang aber mit Studien begleiten, damit aus Surrogat-Parametern harte Endpunkte werden.
Onkologe Otis W. Brawley ist sich sicher: Der Trend beim Lungenkrebs wird weitergehen – und damit einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass die Gesamtsterblichkeit aufgrund einer Krebserkrankung auch in den kommenden Jahren weiter sinken wird.
Einer, der von den guten Nachrichten auch profitieren wollte, bekam prompt Gegenwind. US-Präsident Trump hatte die Geschichte mit einem Tweet begleitet: „US-Krebssterberate die niedrigste in der aufgezeichneten Geschichte! Viele gute Nachrichten kommen aus dieser Regierung.” Es wäre denn auch eine beeindruckende Leistung gewesen; die Cancer Statistics berücksichtigen Zahlen bis einschließlich 2017. Trump hatte sein Amt aber erst im Januar dieses Jahres angetreten. Die ACS widersprach denn auch: Die Zahlen reflektierten Prävention, Früherkennung und Behandlungsfortschritte in den vorangegangenen Jahren.
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