Die neue EU-Kommission hat Fahrt aufgenommen. Was steht in den kommenden Jahren in Sachen Gesundheitspolitik an? Was sind Ihre Erwartungen an Ursula von der Leyen und ihr Team?
Nathalie Moll: Wenn wir uns die Herausforderungen ansehen, vor denen Europa steht, muss es unser Ziel sein, Gesundheitssysteme patientenzentrierter und ergebnisorientierter zu gestalten. Wir sollten Ressourcen dorthin lenken und Anreize für Innovationen dort setzen, wo der Bedarf der Patienten groß ist. Und wir müssen eine Infrastruktur für Gesundheitsdaten entwickeln, die das Beste aus den Fortschritten bei der Datenerfassung und -analyse herausholt. Außerdem gilt es, weiterhin Anreize für medizinischen Fortschritt zu schaffen. Nur so können wir die Herausforderungen einer alternden Bevölkerung und den Anstieg bei chronischen Erkrankungen meistern. Und schließlich müssen wir alle gemeinsam daran arbeiten, dass die Patienten zu der neuen Welle an Innovationen Zugang haben.
Präsidentin von der Leyens Kommission kann hier eine wichtige Rolle spielen, indem sie Europas Anreizsysteme wahrt und einen stabilen, berechenbaren Regulierungsrahmen für medizinische Innovation erhält. Eine neue Industriestrategie für Europa entwickeln: Das ist der Schlüssel, um vor dem Hintergrund eines starken globalen Wettbewerbs innovative Industrien zu unterstützen. Und auch der Vorschlag der Kommission zu einer engeren Zusammenarbeit im Bereich des Health Technology Assessment (HTA) sollte vorangetrieben werden, denn das würde in Europa den Entscheidungsprozess über neue Medikamente qualitativ verbessern und auch beschleunigen.
Die EFPIA ist Mitunterzeichner von „Industry4Europe“, in dem 149 Verbände eine „ehrgeizige und langfristige EU-Industriestrategie“ fordern. Glauben Sie, dass Europa nicht ehrgeizig genug ist?
Moll: Die „Industry4Europe” ist eine große und in dieser Form beispiellose Koalition von Organisationen, die sich dem Ziel einer ehrgeizigen Industriestrategie für und in Europa verschrieben hat. Die Unterzeichner stehen vereint hinter der mehrfach wiederholten Forderung nach einer ambitionierten und langfristig angelegten EU-Industriestrategie. Europa muss einfach anspruchsvoller werden: Zum Beispiel, wenn es darum geht Zentrum für führende, smarte, innovative und nachhaltige Industrien wie die unsrige zu bleiben. Industrien, die qualitativ hochwertige Jobs bieten und einen hohen Nutzen für alle Europäer und zukünftige Generationen schaffen.
In Ihrem EFPIA-Manifesto fordern Sie „European excellence“ – oder konkreter: Die EU soll bei medizinischer Forschung und Entwicklung weltweit führend sein. Wo stehen wir da – verglichen mit anderen Ländern oder Regionen?
Moll: Historisch betrachtet ist Europa immer einer der wichtigsten Maschinenräume für medizinische Innovation gewesen. Allerdings: Diese herausragende Position ist in den vergangenen Jahren erodiert. Wir erleben einen zunehmenden Wettbewerb aus Schwellenländern. Und wenn wir die vergangenen fünf Jahre betrachten, sehen wir, dass die USA Europa bei der Anzahl von neu zugelassenen chemischen und biologischen Wirksubstanzen überholt haben.
Will Europa hier weltweit führend bleiben, muss es einen robusten Regulierungsrahmen erhalten – das gilt auch für das Thema geistiges Eigentum. Nur so kann Europa für Industrie und Investoren gleichermaßen attraktiv bleiben. Stabil und berechenbar sollte dieser Regulierungsrahmen sein: Das ist eine wichtige Voraussetzung für die jährlich 35 Milliarden Euro, die die pharmazeutische Industrie in die Forschung und Entwicklung in Europa investiert (s. EFPIA: The Pharmaceutical Industry in Figures).
Die Wissenschaft macht rasante Fortschritte: Damit wir bei der pharmazeutischen F&E auch künftig vorne mitspielen, ist die Weiterentwicklung des Regulierungsrahmens entscheidend. Zum Beispiel ist die Akzeptanz von Real World-Daten wesentlich, um die Forschung und Entwicklung der nächsten Medikamentengeneration zu fördern.
Immer mehr Gen- und Immuntherapien erscheinen am Horizont. Damit wächst auch die Sorge der Entscheidungsträger über die Preise solcher Innovationen, die Nachhaltigkeit von Gesundheitssystemen und den Zugang zu neuen Therapien. Wie sehen Sie das?
Moll: Traditionell decken Erstattungsmodelle für Arzneimittel die Zeit von der Diagnose über die Behandlung bis hin zur Heilung oder Besserung der jeweiligen Krankheit ab. Im Fall vieler chronischer Erkrankungen zieht sich das über die gesamte Lebensspanne der Patienten. Die Unternehmen werden immer dann bezahlt, wenn ihr Medikament eingesetzt wird. Damit erstrecken sich die Kosten für das Gesundheitssystem über einen langen Zeitraum.
Zell- und Gentherapien, die nur einmal gegeben werden, rütteln an diesem Paradigma. Und das nicht nur, was die Komplexität ihrer Entwicklung und Anwendung sowie die zugrundeliegende Diagnostik betrifft. Sie rütteln an diesem Paradigma auch, weil sie eine einmalige Behandlung darstellen: Sie bergen das Potenzial, den Patienten ein Leben lang von Nutzen zu sein. Ihre Kosten sind sicher sehr herausfordernd für Gesundheitssysteme, die bereits wegen steigender Nachfrage unter Druck stehen. In Anbetracht der Einmalkosten mögen diese neuen Arzneimittel teuer erscheinen. Aber sie sollten als Investitionen verstanden werden – weil sie die Ausgaben einer lebenslangen Therapie ersetzen und das Leben der Patienten grundlegend verändern können.
Damit diese neuartigen Behandlungen auch eingeführt werden können, hat die Industrie eine Reihe verschiedener neuer Preis-Mechanismen entwickelt. Sie sind in einigen EU-Ländern im Einsatz. Wir brauchen hier aber auch noch einen besseren Dialog, um den Nutzen für die Patienten und die Frage der Ausgaben in Einklang zu bringen.
Demografischer Wandel – die große Herausforderung. Ist Europa vorbereitet?
Moll: Alle europäischen Gesundheitssysteme kämpfen mit den Folgen einer alternden Bevölkerung, der damit einhergehenden Multimorbidität – und natürlich gibt es unterschiedliche Ansätze, wie die Länder mit dieser Herausforderung umgehen.
Manche Länder haben immer noch Gesundheitssysteme, in deren Zentren die Krankenhäuser stehen – sie wurden vor allem entwickelt, um mit Notfällen und Akut-Behandlungen fertig zu werden. Viele Systeme bewegen sich nun in Richtung eines integrierten Ansatzes, bei dem die ärztliche Grundversorgung, die häusliche Pflege und E-Health-Services eine wesentlich wichtigere Rolle spielen.
Und: Der Fokus liegt vermehrt auf Prävention, früher Intervention und Disease Management. Wir glauben, dass das der richtige Weg ist. Uns ist aber auch klar, dass grundlegende Reformen in Gesundheitssystemen komplexe und langfristige Unterfangen sind.
Was es hier braucht, liegt auf der Hand: Politisches Leadership und die engmaschige Einbindung aller Stakeholder – vom medizinischen Fachpersonal, über Gesundheitsdienstleister, bis hin zu Patienten, Kostenträgern und dem privaten Sektor. Und natürlich braucht es Investitionen; z. B. in Gesundheitsinformationssysteme, die eine integrierte Versorgung möglich machen, die Forschung unterstützen und es den Patienten erlauben, Zugang zu ihren Gesundheitsakten zu bekommen.
Wir werden in Zukunft mehr für Gesundheit ausgeben müssen – auch um in neue Modelle zu investieren, die steigende Nachfrage zu bedienen und mit den bestehenden Ressourcen besser umgehen zu können. Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) werden rund 20 Prozent der Gesundheitsausgaben verschwendet. Das bedeutet: Wir könnten schon heute deutlich mehr machen, wenn wir in der Lage wären, die Verschwendung zu identifizieren und zu eliminieren. Noch einmal: Eine effizientere Dateninfrastruktur versetzt uns in die Lage, besser zu verstehen, welche Maßnahmen gut funktionieren und welche weniger oder gar nicht. So können wir Gesundheitsdienstleistungen und Behandlungen auf die Bedürfnisse der Patienten zuschneiden.
Wir unterstützen deshalb auch die Vision der neuen EU-Kommission für das European Health Data Space und glauben, dass Projekte, die z. B. im Rahmen der Innovative Medicines Initiative (IMI) entwickelt wurden, wertvollen Input dafür liefern können.
Der bestmögliche Nutzen für die Patienten von heute – bei optimierten Ausgaben. Und ausreichende Investitionen sowie Möglichkeiten für die Patienten von morgen: Wir als EFPIA möchten unseren Teil leisten, damit das möglich wird. Die Zeit läuft – und die Patienten erwarten nichts Geringeres als das.
Das Interview lesen Sie hier ungekürzt und im Original (Englisch).
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