Sie haben 2015 in Duisburg-Essen das Institut für HIV-Forschung gegründet, das Sie seit 2019 am Universitätsklinikum Bonn fortführen. Weshalb gibt es dieses Institut?
Prof. Dr. Hendrik Streeck: Die Gründung hatte zum Ziel, dass sich ein Institut komplett und ganzheitlich mit HIV beschäftigt. Andere virologische Institute beschäftigen sich mit verschiedenen Viren, darunter auch HIV. Das Institut für HIV-Forschung hat sich ausschließlich mit HIV beschäftigt, von der Epidemiologie zur Pathogenese zur Impfstoff-Forschung und zur Therapie.
Ein wesentlicher Schwerpunkt Ihrer Forschungsarbeit ist die Suche nach einem HIV-Impfstoff. Welche Ansätze verfolgen Sie dabei und was sind die besonderen Schwierigkeiten und Herausforderungen?
Streeck: Das Schwierige an HIV ist die Oberfläche des HI-Virus. Dort würde ein Impfstoff ansetzen – aber es gibt auf dieser Oberfläche nur sehr wenige Ansatzpunkte, an denen Antikörper angreifen könnten. Hinzu kommt: Diese Oberfläche hat eine komplizierte dreidimensionale Struktur und ist deshalb im Labor nur schwer nachzubauen. Außerdem sind 50 Prozent der Oberfläche auch noch glykolisiert, also mit Zucker überzogen.
Was ist daran so schlimm?
Streeck: Das Problem daran ist, dass unser Immunsystem notorisch schlecht Immunantworten gegen solche verzuckerten Regionen bilden kann. Neben der generellen Diversität von HIV, die es ja auch noch gibt, haben wir einfach Probleme, eine Struktur zu erschaffen, in der das Immunsystem HIV gut erkennen kann.
Was bedeutet das für die Suche nach einem Impfstoff?
Streeck: HIV-Impfstoff-Forschung ist ein Marathonlauf. So einen Impfstoff findet man nicht alleine im stillen Kämmerlein, sondern das ist eine große Teamarbeit, an der viele verschiedene Laboratorien weltweit beteiligt sind. Da es so lange dauert, werden manchmal auch Impfstoffversuche durchgeführt, von denen man nicht ganz so überzeugt ist.
Was meinen Sie da konkret?
Streeck: Der vor kurzem abgebrochene Impfstoffversuch HVTN702 hatte bereits im Tierversuch keine Wirkung gezeigt. Trotzdem wurde er durchgeführt, weil man von solchen Versuchen sehr viel lernt.
An welchem Impfstoffversuch arbeiten Sie mit?
Streeck: Wir arbeiten hier am MOSAICO-Impfstoffversuch mit, der auf einem „Prime-boost“-Ansatz basiert: Für die erste Impfung, Prime, wird dabei ein anderer Impfstoff verwendet als für die späteren „boost“-Impfungen. Der Prime-Impfstoff besteht aus einem Adenovirus-Vektor, der bestimmte Teile unterschiedlicher HIV-Subtypen enthält. Der „boost“-Impfstoff enthält ein Protein, das die Oberfläche von HIV nachbaut. Wir erhoffen uns von „Prime-boost“ eine breite Antwort des Immunsystems.
Gibt es schon Studienergebnisse zum MOSAICO-Impfstoff?
Streeck: Ja, dieser Impfstoff hat im Affen eine sehr gute Effektivität gezeigt. Dort wurde die Übertragungswahrscheinlichkeit um fast 90 Prozent reduziert.
Wie geht es jetzt weiter?
Streeck: Jetzt wollen wir das auch im Menschen testen. Dafür sind umfangreiche Vorbereitungen notwendig. Wir haben bereits eine so genannte Impfstoff-Machbarkeitsstudie in Europa durchgeführt. Dabei geht es darum, in Deutschland und Europa Menschen zu finden, die ein erhöhtes Risiko für eine HIV-Infektion tragen – und wir müssen klären, ob sie an einem Impfstoff-Versuch teilnehmen, auch langfristig.
Studien am Menschen haben also noch gar nicht begonnen?
Streeck: Doch, in Nordamerika läuft der MOSAICO-Impfstoffversuch bereits seit Ende Oktober mit 3.800 Teilnehmern. In Europa starten wir hoffentlich noch in diesem Monat.
Wann könnte es dann tatsächlich einen Impfstoff geben?
Streeck: Das ist schwer vorherzusagen. Wir müssen ja abwarten, ob sich Leute mit HIV infizieren oder nicht, wobei zugleich alles getan wird, um HIV-Infektionen zu verhindern. Daher dauert so ein Versuch mehrere Jahre, bis man überhaupt ein Ergebnis sehen kann. Anders verhält es sich bei anderen Impfstoffen – dort erhält eine Studiengruppe den Erreger, die andere nicht. Das verbietet sich bei HIV schon aus ethischen Gründen. Da muss man wirklich ein großes Kollektiv impfen von ein paar Tausend Teilnehmern – und dann sieht man nach einigen Jahren, ob es dort weniger HIV-Infektionen gibt als in einer nicht geimpften Gruppe. Erste Ergebnisse erwarten wir nicht vor 2023.
Für wen würde sich ein solcher Impfstoff eignen? Gäbe es dann eine große Impfung für breite Bevölkerungsgruppen oder würde sich das auf Risikogruppen beschränken?
Streeck: Das hängt ganz davon ab, wie gut der Impfstoff ist. Ein schlimmes Szenario für uns wäre ja, wenn wir einen Impfstoff haben, der nur zu 50 Prozent effektiv wäre. Was machen wir damit? Sollen wir dann wirklich Leute impfen? Es gibt ja auch noch diesen negativen Impfeffekt: Die Leute denken, sie wären geschützt, aber sie sind es gar nicht. Trotzdem verzichten sie aufs Kondom oder auf PrEP, die Prä-Expositions-Prophylaxe.
Sie haben einmal gesagt: „Ich hoffe, dass es noch während meines Lebens einen HIV-Impfstoff geben wird.“
Streeck: Das hoffe ich nicht nur, sondern ich bin fest davon überzeugt.
Aber Sie sind jetzt 42 Jahre alt. Es kann also auch noch 50 Jahre dauern?
Streeck: Dieser Blick in die Glaskugel ist für einen seriösen Wissenschaftler fast unmöglich. Jeder bisherige HIV-Impfstoffversuch hat uns komplett mit anderen Ergebnissen überrascht, als wir vorher erwartet hätten. Ich glaube, dass die nächsten Impfstoff-Versuche einen Erfolg zeigen werden. Wie hoch der am Ende ist, kann ich auch nicht vorhersagen. Aber ich denke schon, dass wir dadurch einen so guten Ansatz haben werden, dass wir in den nächsten Jahren den Schutz vor HIV weiter verbessern können.
Wird es auch gelingen, HIV in die Geschichtsbücher zu verbannen?
Streeck: Es wird schwierig, HIV wirklich vollständig zu heilen. Wir werden noch länger mit HIV-infizierten Menschen zu tun haben. Ich glaube aber, dass ein HIV-Impfstoff zumindest zum Teil effektiv sein wird und man dadurch die Dringlichkeit der HIV-Forschung reduzieren kann.
Die HIV-Forschung spielt auch im Zusammenhang mit dem Coronavirus eine Rolle: In Thailand wurde ein Medikament getestet, dass sich aus einem Grippemittel und einem HIV-Mittel zusammensetzt. Sehen Sie da Heilungschancen?
Streeck: Beim HIV-Medikament ist es recht eindeutig, dass es wahrscheinlich wirken könnte. Das Corona-Virus verfügt auch über eine Protease, die strukturell ähnlich ist. Also funktioniert es wahrscheinlich, wenn Proteasehemmer gegen das Coronavirus eingesetzt werden. Das verwendete Grippemedikament ist dagegen ein sehr spezifischer Neuroaminidase-Inhibitor – ich glaube nicht, dass er beim Coronavirus etwas bewirkt. Neben den HIV-Medikamenten gibt es noch bestimmte Hepatitis-Medikamente, die auch funktionieren könnten.
Sie haben mehrere Jahre als Forscher in den USA gearbeitet. Weshalb sind Sie nach Deutschland zurückgekehrt? Sind die Bedingungen für einen HIV-Forscher in den USA nicht weitaus besser als in Bonn?
Streeck: Das stimmt, aber ich hatte hier die Möglichkeit, nach meinen eigenen Ideen und Vorstellungen ein Institut komplett neu aufzubauen, das war schon sehr reizvoll. Zumal Deutschland ein starkes Land ist, sowohl im Wissenschaftsbereich als auch ökonomisch.
Bevor Sie HIV-Forscher wurden, haben Sie zwei Semester Musikwissenschaften studiert. Wieso haben Sie sich dann doch für ein Medizinstudium entschieden?
Streeck: Ich hatte immer schon zwei Seelen in meiner Brust. Ich hatte in der Schule Biologie und Chemie als Leistungskurse, weil ich Arzt werden wollte. Aber ich habe zugleich alle Nebenfächer ausgereizt mit Chor, Orchester und Musik. In den letzten Jahren meiner Schulzeit habe ich Filmmusik geschrieben, für Filme des Bayerischen Rundfunks.
Ich war nahe daran, in die Filmmusik-Komposition zu gehen, bin aber heute glücklich, dass ich doch noch zur Medizin gewechselt bin. Denn auch hier kann ich mich kreativ ausleben.
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