Gefährden die Kosten für Medikamente gegen seltene Erkrankungen die finanzielle Stabilität europäischer Gesundheitssysteme? Antwort gibt eine Studie. Foto: ©www.rarediseaseday.org / Eurordis
Gefährden die Kosten für Medikamente gegen seltene Erkrankungen die finanzielle Stabilität europäischer Gesundheitssysteme? Antwort gibt eine Studie. Foto: ©www.rarediseaseday.org / Eurordis

Seltene Erkrankungen: Bleiben Orphan Drugs finanzierbar?

Seit Einführung der EU-Verordnung zu Orphan Drugs im Jahr 2000 wurden circa 150 Medikamente gegen seltene Erkrankungen zugelassen, heißt es in einer Studie im Fachblatt „Orphanet Journal of Rare Diseases“. Vor diesem Hintergrund werden zunehmend Stimmen laut, wonach die Kosten für diese Arzneimittel die finanzielle Stabilität und Nachhaltigkeit der Gesundheitssysteme in Europa in Gefahr bringen könnten. Ein Team um den Ökonomen Dr. Jorge Mestre-Ferrandiz hat sich mit diesem Thema genauer beschäftigt – und eine klare Antwort gefunden.

„Wir sind die 300 Millionen“, ist auf einem Poster zu dem von der Organisation EURORDIS organisierten Rare Disease Day (29.02.2020) zu lesen. So viele Menschen leben weltweit mit einer seltenen Erkrankung. Für einige von ihnen wurden in den vergangenen Jahren erstmals Therapien verfügbar. Doch bei vielen tappt die Forschung noch im Dunkeln. „Arzneimittel zu entwickeln, ist meist nur möglich, wenn die Krankheitsprozesse im Körper molekülgenau aufgeklärt sind. Aber mangelnde Kenntnis über Entstehung und Verlauf ist sozusagen ein Markenzeichen einer seltenen Erkrankung“, erklärt der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) die Herausforderung.

„Wir sind die 300 Millionen“. Foto: ©www.rarediseaseday.org/Eurordis
„Wir sind die 300 Millionen“. Foto: ©www.rarediseaseday.org/Eurordis

Trotzdem: Die Orphan Drug-Verordnung aus dem Jahr 2000 hat der Forschung einen Schub gegeben. Noch nie gab es so viele Medikamente für die „Waisen des Gesundheitssystems“ wie heute. „Zwischen 2011 und 2016 hat die Zahl der Orphan Drugs, die die europäische Marktzulassung erhalten, um 18 Prozent pro Jahr zugenommen“, schreibt das Team um Mestre-Ferrandiz in seiner Studie im „Orphanet Journal of Rare Diseases“. Das „führte unter Entscheidungsträgern zu Sorgenfalten“: Bleiben Orphan Drugs auf lange Sicht finanzierbar? „In jüngster Zeit hat die Einführung von hochpreisigen Gen- und Zelltherapien – viele von ihnen sind Orphan Drugs – die Aufmerksamkeit weiter auf die Ausgaben für Medikamente gegen seltene Erkrankungen gerückt.“

Ausgaben für Orphan Drugs: Ausdruck des medizinischen Fortschritts

Vor diesem Hintergrund ist die Studie von Mestre-Ferrandiz und Co. als ein Appell zu lesen: ein Appell, bei der Betrachtung der Ausgaben eines bestimmten Bereichs immer den gesamten Kontext in den Blick zu nehmen. Genau das haben die Wissenschaftler mit ihrer Arbeit getan: „Das Ziel dieser Studie ist es, die Nachhaltigkeit der Orphan Drugs-Ausgaben unter Berücksichtigung der gesamten europäischen Arzneimittelausgaben zu untersuchen“. Dazu haben sie sich Daten zu acht Ländern über den Zeitraum von 2000 bis 2018 angeschaut: Österreich, Belgien, Frankreich, Deutschland, Irland, Italien, Spanien und Vereinigtes Königreich (UK).

Ein Ergebnis der Analyse ist „wie erwartet“, so die Autoren: Weil immer mehr Orphan Drugs zugelassen werden, steigt seit 2000 auch ihr Anteil an den gesamten Arzneimittelausgaben stetig. 2017 zum Beispiel entfielen von den insgesamt etwa 147 Milliarden Euro, die in den untersuchten Ländern in Medikamente gesteckt wurden, circa 10,5 Milliarden Euro auf Orphan Drugs (7,2 %). Die gesamten Arzneimittelausgaben wuchsen in Österreich, Belgien, Deutschland und Co. von 2010 bis 2017 mit einer kumulierten jährlichen Wachstumsrate von drei Prozent – bei Orphan Drugs lag dieser Wert bei 16 Prozent.

Es gibt immer mehr Orphan Drugs. Foto: ©utah778/iStock
Es gibt immer mehr Orphan Drugs. Foto: ©utah778/iStock

Es stimmt also: Über die Zeit gesehen ging immer mehr Geld in die Behandlung von Menschen mit „rare diseases“. Es ist Ausdruck eines enormen medizinischen Fortschritts: Seit 2001 stieg die Zahl der Orphan Drugs, die von der Arzneimittelbehörde EMA eine Marktzulassung erhielten, im Durchschnitt um elf Prozent pro Jahr, heißt es in der Studie. Über alle Medikamentenklassen hinweg gab es hingegen ein jährliches Plus von „nur“ sieben Prozent. Anteilsmäßig entfallen somit zunehmend mehr Zulassungen auf Arzneimittel gegen seltene Leiden (2011: 9 %; 2017: 17%).

Gesamter Arzneimittelmarkt wächst langsamer als gedacht

Bereits vor neun Jahren setzte sich eine Gruppe von Wissenschaftlern in einer Studie mit Verkaufsdaten von Orphan Drugs auseinander. Sie machten eine Vorhersage für die Jahre 2011 bis 2020: Demnach sollte ihr Anteil an den gesamten Arzneimittelausgaben in Europa 2016 mit 4,6 Prozent einen Höhepunkt erreichen.

Die aktuelle Analyse im Orphanet Journal stellt nun rückblickend fest: Der tatsächliche Anteil war sogar größer. Er lag 2016 bei 6,3 Prozent – und stieg danach weiter an (2017: 7,2 %).

Grund zur Sorge? Nein: Denn die Experten hatten damals erwartet, dass im Durchschnitt der gesamte Arzneimittelmarkt jährlich sehr viel schneller wächst (+6,6 %) als er es nachher wirklich tat (+3 %) – das „Stück vom Kuchen“, das auf Orphan Drugs entfiel, war dementsprechend größer.

Der Arzneimittelmarkt ist dynamisch. Foto: ©iStock.com/Motortion
Der Arzneimittelmarkt ist dynamisch. Foto: ©iStock.com/Motortion

Dynamischer Arzneimittelmarkt: Innovationsboom und Patentabläufe

Wenn ein Punkt besonders deutlich aus der Arbeit von Mestre-Ferrandiz und seinen Mitstreitern hervorgeht, dann ist es der: Die Ausgabensteigerungen bei Orphan Drugs scheinen „nicht zu einem (zusätzlichem) Wachstum des gesamten Markts zu führen“. Das heißt: Der medizinische Fortschritt im Bereich der seltenen Erkrankungen – und die damit zusammenhängenden Kosten – werden an anderer Stelle kompensiert.

„Auf der einen Seite hat sich das Wachstum im Markt der patentgeschützten Arzneimittel ohne Orphan-Status deutlich verlangsamt“ – die Kostenentwicklung verläuft hier flach; ihr Marktanteil schrumpft. „Auf der anderen Seite hat sich der Anteil des Segments ohne Patentschutz vergrößert“ – es kommen vermehrt kostengünstige Nachahmerpräparate (Generika bzw. Biosimilars) zum Einsatz.

Das zeigt, wie dynamisch der Arzneimittelmarkt ist: Während in einem Bereich die Ausgaben aufgrund eines Innovationsbooms steigen, sorgen an anderer Stelle z.B. Patentabläufe für Einsparungen. Letzterer Fall könnte künftig auch bei Orphan Drugs an Bedeutung gewinnen: Die „potenziellen Auswirkungen von Generika bzw. Biosimilars könnten die ökonomische Last reduzieren“, erklären die Studienautoren.

Komplexere Erkrankungen, kleinere Patientenpopulationen

Zielgerichtet gegen komplexe Erkrankungen. ©iStock.com / YakobchukOlena
Zielgerichtet gegen komplexe Erkrankungen. ©iStock.com / YakobchukOlena

Scheinbar konzentrieren sich die Arzneimittelausgaben aktuell auf immer komplexere Erkrankungen mit kleineren Patientenpopulationen und größerem ungedecktem medizinischem Bedarf. Innovative, zielgerichtete Therapien können immer spezifischer und individualisierter in Erkrankungsmechanismen eingreifen. 

Trotzdem gilt: Die Ausgaben für Orphan Drugs „können als nachhaltig erachtet werden, wenn sie im Kontext der gesamten Arzneimittelausgaben betrachtet werden“, resümieren die Studienautoren.

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