„Noch nie haben Pharma-Unternehmen und Forschungseinrichtungen so schnell auf einen neuen Erreger reagiert wie auf das neue Coronavirus SARS-CoV-2, das die Krankheit Covid-19 hervorruft“, so der vfa. Die pharmazeutische Forschung läuft auf Hochtouren: Hoffnung liegt nicht nur auf Vakzinen und neuen Medikamenten, sondern v.a. auch auf bereits vorhandenen Wirkstoffen.
Ein Beispiel: Remdesivir, das in der Vergangenheit in Studien bei Ebola-Patienten zum Einsatz kam. Es ist ein noch nicht zugelassenes Prüfpräparat, das in Zell- sowie in Tiermodellen eine breite antivirale Aktivität gegen weitere Krankheitserreger – etwa gegen MERS-CoV und SARS-CoV, die wie SARS-CoV-2 zur Familie der Coronaviren gehören – gezeigt hat. Der Wirkstoff könnte also bei der aktuellen Pandemie helfen – darauf deutet u.a. auch der Fall eines 35-jährigen Patienten aus den USA hin, dessen Symptome nach Anwendung von Remdesivir abklangen. Inzwischen wurden Studien der letzten Phase der klinischen Erprobung (Phase 3) initiiert, um die Sicherheit und Wirksamkeit bei Coronavirus-Erkrankten zu untersuchen. Erste Ergebnisse werden im April erwartet.
So weit fortgeschritten ist der Arzneimittelkandidat nur, weil bereits Sicherheitsdaten aus Studien mit dem Ebola-Virus vorliegen – in Zeiten einer sich rasant ausbreitenden Pandemie ein großer Vorteil. Neben Remdesivir werden daher viele weitere bekannte Präparate für SARS-CoV-2 erprobt. Darunter ist ein Malaria-Mittel (Chloroquin) und ein Hepatitis C-Medikament (Ribavirin). Auch ein HIV-Arzneimittel (Lopinavir/Ritonavir) wird untersucht; in einer Studie mit 199 Patienten brachte es zuletzt jedoch nicht den erhofften Erfolg.
Repurposing: Zufall oder das Ergebnis systematischer Suchen
„Arzneimittel-Repurposing […] meint die Beurteilung von zugelassenen oder sich in der Erprobung befindlichen Medikamenten, um eine Krankheit zu behandeln, die nicht die ist, für die das Präparat bis dahin zugelassen oder klinisch getestet wurde“, schreibt ein internationales Wissenschaftlerteam um den belgischen Bioingenieur Erik Tambuyzer in einem Beitrag für das Fachmagazin „Nature“. Nicht zu vergessen sind dabei Wirkstoffe, die gegenwärtig nicht mehr erforscht werden, für die aber Daten aus in der Vergangenheit durchgeführten Studien vorliegen.
Die meisten dieser Kandidaten haben beim Einsatz bei Menschen schon gezeigt, dass sie sicher sind – manche bereits Phase 2- oder Phase 3-Studien absolviert.
Früher wurden die neuen Indikationen oft eher zufällig entdeckt. Ein Beispiel: Sildenafil, das zuerst zur Behandlung von „Angina pectoris“ („Brustenge“) getestet wurde. In der klinischen Erprobung entdeckte man als Nebenwirkung dessen Potenzial zur Therapie von Erektionsstörungen. Eine neue Studie für diese Indikation wurde aufgesetzt – mit Erfolg. Weitere Forschung machte es möglich, dass der Wirkstoff inzwischen außerdem als Mittel gegen Lungenhochdruck zum Einsatz kommt.
Heute ist Repurposing immer häufiger auch das Ergebnis systematischer Suchen: Als das neuartige Coronavirus aufkam, begannen Forscher weltweit gezielt bekannte Medikamente auf ihre mögliche Wirksamkeit gegen SARS-CoV-2 zu durchforsten – zum Teil mit Hilfe von Supercomputern und künstlicher Intelligenz (s. z.B. „MT-DTI model“).
Repurposing: in vergleichsweiser kurzer Zeit
Repurposing bietet in solchen Situationen das Potenzial, in vergleichsweiser kurzer Zeit ein Medikament gegen den jeweiligen Krankheitserreger zu finden. Normalerweise dauert der Weg von der Idee für ein Medikament in einer frühen Forschungsphase bis hin zum zugelassenen Arzneimittel durchschnittlich 13,5 Jahre. Von rund 5.000 bis 10.000 Substanzen, die anfangs auf der Suche nach einem Medikament neu hergestellt und untersucht werden, kommen nach etwa fünf bis sechs Jahren nur rund neun in klinische Studien mit Menschen (Phase I) – und nur eine einzige schafft es zur Zulassung (s. Pharma Fakten).
Arzneimittel, die eine Zulassung in einer anderen Indikation haben oder dort immerhin schon in der klinischen Erprobung sind bzw. einmal waren, bieten – so die Theorie – einen Weg zu einem Medikament, der „schneller, weniger riskant und kostenintensiv ist“, heißt es in einem „Nature“-Artikel. Zumindest die präklinische Forschung wurde bereits absolviert; Neben- oder Wechselwirkungen sind teilweise schon bekannt.
Repurposing: kein Selbstläufer
Doch das heißt nicht, dass die Entwicklung eines Medikaments – z. B. gegen das Coronavirus – mit Hilfe von Repurposing ein Selbstläufer ist. Im Gegenteil: Nach wie vor werden „klinische Studien benötigt, um die Wirksamkeit in der neuen Indikation zu zeigen“, erklären Erik Tambuyzer und Co. Gerade die klinischen Studienphasen 2 und 3 haben es in Sachen Investitionen in sich (s. Pharma Fakten-Grafik). Die Wissenschaftler schreiben außerdem: „Auch wenn Sicherheitsdaten für die ursprüngliche Indikation eines Repurposing-Kandidaten zur Verfügung stehen, kann es sein, dass sich das Sicherheitsprofil des Medikaments in einem anderen Setting, das für die neue Indikation (z.B. Begleiterkrankungen) oder das Behandlungsregime (z.B. long term vs. short term) charakteristisch ist, deutlich verändert.“ Die klinische Sicherheit muss daher auch in der neuen Indikation genau untersucht werden.
Ein Extrembeispiel ist der Wirkstoff Thalidomid. 1957 als Beruhigungs- und Schlafmittel eingeführt, wurde es vom Markt genommen, als sich herausstellte, dass die Einnahme des Medikaments Schäden bei ungeborenen Kindern im Mutterleib hervorrief. Man lernte daraus (s. BfArM): Die Sicherheitsprüfungen, die ein Arzneimittel durchlaufen muss, sind seitdem deutlich verschärft. Einige Jahre später erkannten Forscher das Potenzial dieses Wirkstoffes für schwerkranke Krebspatienten.
Der Weg bis zu seiner Zulassung für das Multiple Myelom war steinig: Es wurde ein komplett neues Entwicklungsprogramm aufgesetzt – aus der früheren Indikation ließen sich dafür keine relevanten Erkenntnisse ableiten. Auch gehörte dazu ein aufwändiges Sicherheitsprogramm. Das Ganze hat sich gelohnt: Inzwischen sind sogar weitere Folgeprodukte des Wirkstoffes für Krebspatienten verfügbar, die deren Lebensqualität erhöhen. Die Prognosen für Patienten mit Multiplen Myelom haben sich aufgrund zunehmender Therapieoptionen verbessert: Wer in den 50er Jahren mit der Diagnose konfrontiert war, der hatte eine Chance von rund fünf Prozent, fünf Jahre später noch zu leben. 2014 lag diese Quote schon bei 66 Prozent – Tendenz steigend (s. Pharma Fakten).
Von HIV bis Thrombose: Repurposing in vielen Bereichen
Es gibt zahlreiche weitere Beispiele für Repurposing-Medikamente, die das Leben der Patienten verändert haben. Das allererste Präparat gegen das HI-Virus – einst quasi ein Todesurteil – gehört dazu. Es baut auf einem Wirkstoff auf, der als Krebsmedikament gescheitert war. Heute steht HIV-Erkrankten eine Vielzahl an Therapien zur Verfügung, sodass sie eine nahezu gleiche Lebenserwartung wie HIV-Negative erreichen können und nicht einmal ansteckend sind.
Die Acetylsalicylsäure (ASS), die anfangs nur zur Behandlung von Schmerzen und Fieber in Frage kam, kann inzwischen dank weiterer Forschung auch zur Thromboseprophylaxe genutzt werden. Und Canakinumab – erst lediglich zur Rheuma-Therapie gedacht – wird heute als Medikament bei mehreren entzündlichen Erkrankungen angewendet.
Das zeigt: Bekannte Wirkstoffe – ob sie in ihrer ursprünglichen Indikation nun gescheitert sind oder nicht – bergen großes Potenzial für die Behandlung weiterer Krankheiten. Mit jedem Jahr, das vergeht und in dem der Fundus an Arzneimitteln sowie das Wissen über Krankheiten wächst, nimmt dieses Potenzial zu. Die gegenwärtige Suche nach Medikamenten gegen SARS-CoV-2 profitiert von der Forschung und Entwicklung der Vergangenheit – nur durch sie ist es überhaupt denkbar in relativ kurzer Zeit ein Mittel gegen den neuen Erreger finden zu können.
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