Aus dem Dreiklang Operation, Chemotherapie, Bestrahlung ist längst ein multimodaler Werkzeugkasten geworden, um Krebserkrankungen zu bekämpfen. Ein Überblick über die neuesten Trends in der Onkologie-Forschung. Foto: ©istock.com/peterschreiber.media
Aus dem Dreiklang Operation, Chemotherapie, Bestrahlung ist längst ein multimodaler Werkzeugkasten geworden, um Krebserkrankungen zu bekämpfen. Ein Überblick über die neuesten Trends in der Onkologie-Forschung. Foto: ©istock.com/peterschreiber.media

„Vision Zero“ bei Krebs: Die akzeptierte Opferzahl ist Null

Eine Welt ohne Krebstote? Führende Onkologen haben die Initiative „Vision-Zero-2020“ gegründet. Es ist eine konzertierte Kampfansage. Das Credo: Jeder Krebstote ist einer zu viel.

„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ – ein bekanntes Zitat von „Schmidt-Schnauze“, wie Altbundeskanzler Helmut Schmidt auch genannt wurde. Gesagt hat er es 1980 gegenüber dem „Spiegel“; es war ein gezielt sitzender Seitenhieb auf Parteifreund Willy Brandt. 

Ob er das selbst geglaubt hat? Wie auch immer: Visionen sind ein Projektor in die Zukunft – sie sollen heute aufzeigen, was morgen möglich sein könnte. Der Psychoanalytiker Erich Fromm sah in ihnen offenbar eine gestalterische Kraft: „Wenn das Leben keine Vision hat, nach der man sich sehnt, dann gibt es auch kein Motiv, sich anzustrengen.“ Schmidt und Fromm: zwei Seiten einer Medaille. Aber: Was hat das alles mit Krebs zu tun?

Prof. Dr. Christof von Kalle. Foto: © Peitz / Charité
Prof. Dr. Christof von Kalle. Foto: © Peitz / Charité

Professor Dr. Christof von Kalle hat eine Vision. Sie heißt „Vision-Zero“. Sie besagt: Jeder einzelne Krebstote ist einer zu viel. Zum Arzt gehen muss Kalle nicht. Er ist selbst einer – und als Leiter des Klinischen Studienzentrums von Berlin Institute of Health und der Charité einer der führenden Onkologen dieses Landes. Kalle macht eine einfache Rechnung auf: „Jeder zweite Mensch in Deutschland erkrankt irgendwann in seinem Leben an Krebs. Das ist eine gewaltige gesellschaftliche und medizinische Herausforderung, die die Hälfte von uns betrifft und ein Viertel von uns frühzeitig sterben lässt. Und die wir lediglich mit einem Fünfzehntel unserer Gesundheitsaufwendungen bekämpfen.“ Aber das ist noch nicht alles: „Von diesen ca. 6,5 Prozent der Ausgaben stecken wir bisher so gut wie nichts in Prävention, relativ wenig in die Frühdiagnostik und den Löwenanteil in die Behandlung von Krebspatienten.“

Krebs: Das Sterben findet hinter verschlossenen Türen statt

Da passt etwas nicht zusammen, findet Prof. Dr. Michael Hallek, der ebenfalls zur wissenschaftlichen Leitung der Initiative Vision Zero gehört; auch er Onkologe von internationalem Format. Er glaubt, dass viele Bürger den Krebs als unabwendbares Schicksal wahrnehmen und dass das Thema stärker in der Öffentlichkeit thematisiert werden müsste. „Wenn wir für jeden Todesfall durch Krebs an einer deutschen Autobahn ein Kreuz aufstellen würden, stünden allein für das Jahr 2020 alle 57 Meter eines.“ Deshalb Vision Zero – eine breite Initiative aus Wissenschaft und Forschung, medizinischen Fachgesellschaften und Verbänden, Stiftungen, Medien und Industrie. „Wir wollen dem Ziel, dass niemand mehr zu früh an Krebs sterben muss, so nahe wie möglich kommen“, so Hallek.

Vision Zero im Straßenverkehr. Foto: CC0 (Stencil)
Vision Zero im Straßenverkehr. Foto: CC0 (Stencil)

Vision Zero ist eigentlich ein Konzept aus dem Arbeitsschutz. Es arbeitet unter der Prämisse, dass Menschen Fehler machen und setzt dort an, um Fehlerquellen auszumerzen – etwa durch strukturelle oder technische Veränderungen bei bestimmten Prozessen. Das funktioniert z.B. im Straßenverkehr: Kreuzungen sind unfallträchtig. Ersetzt man sie durch Brücken, Auffahrten oder Kreisel, kann man die Zahl der Unfälle reduzieren oder dafür sorgen, dass sie weniger schwerwiegend sind. Schweden hat Vision Zero vor mehr als zwei Jahrzehnten eingeführt und verzeichnet deutlich weniger Verkehrstote pro 100.000 Einwohner als Deutschland. Vision Zero hat zumindest in Industrienationen dazu geführt, dass man Verkehrsaufkommen und Unfallzahlen voneinander entkoppeln konnte.

Auch in Deutschland ist es gelungen, dass immer weniger Menschen auf der Straße sterben, obwohl die Anzahl gefahrener Kilometer in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen ist. Gurt- und Helmpflicht? Airbags? Es sind alles Maßnahmen in dem Versuch, dass Menschen weniger Unfälle machen oder – wenn sie Unfälle machen – besser geschützt sind.

Krebsfälle: 30 bis 40 Prozent vermeidbar

Das wünschen sich von Kalle, Hallek und Co. auch für Krebs. „Demografie bedingt rechnen wir mit immer mehr Krebsfällen“, sagt Prof. von Kalle. „Aber müssen wir das hinnehmen, wenn wir gleichzeitig wissen, dass zwischen 30 und 40 Prozent von ihnen durch Prävention und Früherkennung vermieden werden könnten?“ Auch weitere Forschungsanstrengungen sind aus Sicht der Onkologen notwendig. Hallek: „Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um die Entstehung von Krebs vollständig zu verstehen.“ Lebensstil, Umwelteinflüsse – all das spielt eine große Rolle. All das birgt noch viele Geheimnisse, die zu lüften die Bekämpfung von Krebs besser machen könnte.

Immerhin ist es in den vergangenen Jahren gelungen, das Auftreten und die Sterblichkeit von Krebs ein Stück weit zu entkoppeln: Das zeigt eine Studie des schwedischen Institute of Health Economics (IHE), die sich das Krebsgeschehen in 31 Ländern Europas angeschaut hat.

Vision Zero bei Krebs. Foto: ©iStock.com/kzenon
Vision Zero bei Krebs. Foto: ©iStock.com/kzenon

Demnach haben auf dem Kontinent in den vergangenen 20 Jahren die Krebsfälle um 50 Prozent zugenommen, die daraus resultierende Sterblichkeit aber um 20 Prozent (Pharma Fakten berichtete). Das IHE schreibt in seinem Bericht: „Rechnet man Bevölkerungswachstum und Alterung heraus, wäre die Krebsmortalität im Zeitraum zwischen 1995 und 2018 in den meisten Ländern stark gesunken. Kontinuierliche Zuwächse der Fünf-Jahres-Überlebensraten bei den häufigsten Krebsarten in allen Ländern sind Ausdruck dieser Entwicklung.“

Vision Zero: Jeder Stein muss umgedreht werden

Noch einmal Hallek: „Vision Zero heißt, wir müssen jeden einzelnen Stein umdrehen und alles anschauen: den Lebensstil, die Präventionsangebote, die frühe Diagnostik, die Therapie, die Ursachenforschung, den Studienstandort Deutschland. Wir brauchen auch rasch eine digitale Erfassung und Vernetzung der Daten, so dass jeder Arzt und Patient erfahren und verstehen kann, wie die letzten zehn Fälle gleicher Art behandelt worden sind. Krebserkrankungen sind molekular hochkomplex. Deshalb brauchen wir die Daten aus der Routinebehandlung für die Fortentwicklung und Qualitätsverbesserung von Therapien.“

Hallek und Kalle ist klar: Es wird sich auch in Zukunft nicht jeder Krebsfall verhindern lassen. Aber hinter Vision Zero steht der Antrieb, zumindest alles dafür getan zu haben.

Oder frei nach Helmut Schmidt: Wer seine ganz persönliche Vision von „Jeder Krebstote ist einer zu viel“ verfolgt, der sollte unbedingt zum Arzt gehen – etwa zur Darmkrebsvorsorge.

Das Interdisziplinäre Symposium „VISION ZERO – DIE NEUVERMESSUNG DER ONKOLOGIE“ findet am 20. Oktober 2020 in Berlin statt: https://www.vision-zero-2020.de/

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