Arzneimittel-Resistenzen  zu denen auch Antibiotika-Resistenzen zählen  gelten als eine der größten Herausforderungen. Die „AMR Industry Alliance“ zeigt auf  wo es Fortschritte gibt – und wo noch viel getan werden muss.
Arzneimittel-Resistenzen zu denen auch Antibiotika-Resistenzen zählen gelten als eine der größten Herausforderungen. Die „AMR Industry Alliance“ zeigt auf wo es Fortschritte gibt – und wo noch viel getan werden muss.

Arzneimittel-Resistenzen: Gesundheitskrisen ganz ohne Coronavirus

Wenn Arzneimittel nicht mehr helfen, ist eine gesundheitliche Krise nicht weit. Arzneimittel-Resistenzen, zu denen auch Antibiotika-Resistenzen zählen, gelten schon heute als eine der größten Herausforderungen für die öffentliche Gesundheit weltweit. In ihrem Bericht zeigt die „AMR Industry Alliance“ auf, wo es Fortschritte gibt – und wo noch viel getan werden muss.
AMR steht für Antimikrobielle Resistenzen. ©istock.com/Mohammed Haneefa Nizamudeen
AMR steht für Antimikrobielle Resistenzen. ©istock.com/Mohammed Haneefa Nizamudeen

Für Zurückhaltung ist Fernseharzt Dr. House nicht bekannt: „Ich habe immer zur westlichen Medizin gestanden. Du kannst so viel Sellerie kauen wie Du willst, aber ohne Antibiotika wären drei Viertel von uns nicht mehr hier.“ Eine moderne Medizin ohne Antibiotika? Vor 70 Jahren war eine Lungenentzündung für die meisten Betroffenen noch das Todesurteil: Neun von zehn Patienten starben. Nach der Entdeckung von Penicillin im Jahr 1928 (genauer gesagt: nach der Wiederentdeckung) änderte sich das grundlegend: Nun konnten neun von zehn gerettet werden. Das geht aus Zahlen von CombatAMR hervor, einer Organisation, die sich dem Kampf gegen antimikrobielle Resistenzen verschrieben hat. Wenn in Sachen Arzneimittelresistenzen nicht gegengesteuert wird, kann sich das Blatt wieder wenden: 

Vom einem drohenden Vor-Penicillin-Zeitalter sprechen Experten. Einfache Operationen können zu High-Risk-Unternehmungen werden.

AMR steht für Antimikrobielle Resistenzen. Sie entstehen, wenn Medikamente gegen für den Menschen schädliche Mikroben – etwa Bakterien, Viren, Pilze, Parasiten – unwirksam werden. Das ist zunächst ein ganz natürlicher Prozess, denn die zu bekämpfenden Mikroben entwickeln Überlebensstrategien; schon der Penicillin-Entdecker Ian Fleming hatte davor gewarnt (Pharma Fakten berichtete).

Antibiotika-Resistenzen – also Arzneimittel gegen bakterielle Infektionen – sind deshalb zwar das „berühmtere“ Problem, aber eben nur ein Teil des Themenkomplexes. Denn auch antivirale oder antimykotische (Pilze) Medikamente können ihre Wirkung verlieren. Rund 700.000 Menschen sollen weltweit heute bereits an den Folgen antimikrobieller Resistenzen sterben. Doch wenn die Wende nicht geschafft wird, prognostizieren Experten für 2050 rund zehn Millionen Tote weltweit – jedes Jahr (s. Grafik). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass es heute schon Regionen gibt, in denen es gegen einige der häufigsten Infektionen für die Hälfte der Patienten keine wirksamen Medikamente mehr gibt. In den USA zählten die Behörden 2017 drei Millionen Infektionen, gegen die die Gabe von Antibiotika nicht mehr wirksam war. Der 2019 von den US Centers of Disease Control veröffentlichte Bericht ist den 48.700 Familien gewidmet, „die jedes Jahr einen geliebten Menschen verlieren.“

Ziel der AMR-Industry Alliance: Resistenzen bekämpfen

„Lässt uns die Pharmaindustrie im Stich?“, fragte die Frankfurter Allgemeine Zeitung: Forschende Pharmaunternehmen stehen wegen der AMR-Krise unter Druck. Wohl auch deshalb haben sich im Jahr 2017 mehr als hundert Life-Science-Unternehmen – forschende Pharma- und Biotechnologieunternehmen und deren Verbände, Hersteller von Diagnostika sowie Generikaunternehmen – zur AMR Industry Alliance zusammengeschlossen. Ihr Ziel: Die Folgen antimikrobieller Resistenzen dämpfen und bekämpfen. Die Allianz steht für etwa ein Drittel der weltweiten Antibiotikaversorgung, einen großen Anteil der antimikrobiellen Substanzen in klinischer Entwicklung und ein großes Segment des Diagnostiksektors, der sich mit der Entwicklung und Herstellung von AMR-bezogenen Produkten befasst. Im Januar hat sie ihren „2020 Progress-Report“ herausgegeben. Es basiert auf einer Umfrage unter seinen Mitgliedern. Der Tenor: Es tut sich sehr viel, aber es ist zu wenig.

Pharmaindustrie ist in Forschung und Entwicklung führend. 
Foto: ©iStock.com/Natali_Mis
Pharmaindustrie ist in Forschung und Entwicklung führend.
Foto: ©iStock.com/Natali_Mis

Life-Science-Unternehmen: Keiner investiert mehr

Wenn es um die Entdeckung und Erforschung neuer antimikrobieller Medikamente und Impfstoffe geht, ist die Pharmaindustrie führend. Die Mitglieder der Allianz investieren rund 1,6 Milliarden US-Dollar in AMR-bezogene Forschung und Entwicklung (F&E) – den größten Batzen steuern die großen Pharmaunternehmen bei. In den Pipelines der abgefragten Unternehmen finden sich 24 Antibiotika und Antimykotika, elf Impfstoffkandidaten und 16 Diagnose-Tools. Zum Vergleich: Der öffentliche Sektor investiert ungefähr eine halbe Milliarde Dollar.

Für den Vorsitzenden der Allianz Thomas Cueni sind die Zahlen „ein Weckruf, da die für 2018 berichteten Investitionen in Höhe von 1,6 Mrd. US-Dollar in AMR-relevante F&E für den Erhalt einer realisierbaren Pipeline nicht ausreichen dürften.“ Ein großer Teil der Kandidaten befindet sich in einem frühen Stadium der Entwicklung; die kapitalintensive Phase III steht noch bevor. Cueni sieht die Politik in der Verantwortung: Drei von vier befragten Unternehmen gaben an, dass sie im Falle einer Verbesserung der Geschäftsmodelle ihre Investitionen in den AMR-Bereich wahrscheinlich steigern würden.

Kalte ökonomische Betrachtungen angesichts einer Gesundheitskrise mit globalen Ausmaßen, die auch zwischen arm und reich nicht unterscheidet? Das Geschäftsmodell privat finanzierter F&E gilt als Erfolgsmodell, wie die Fortschritte der vergangenen Jahre zeigen. Aber genau das ist der Haken: In der Antibiotika-Forschung gibt es kein funktionierendes Geschäftsmodell. Denn erstens fallen neue Antibiotika nicht vom Himmel, sondern sind eine erhebliche wissenschaftliche Herausforderung. Firmen, die hier investieren, müssen also – zweitens – einen langen Atem haben. Und selbst wenn das alles funktioniert, stehen die Produkte – drittens – eigentlich unter Verkaufsvorbehalt. Denn jedes neue Präparat soll möglichst als Reserveantibiotikum in den Schrank gesperrt werden. Oder zumindest nur zurückhaltend verschrieben werden – als eine Art Versicherung für die Zeit, wenn mit etablierten Medikamenten gar nichts mehr geht. „Entwickeln Sie, aber bitte verkaufen Sie nicht“ – man muss kein Betriebswirt sein, um zu verstehen, dass das nicht funktionieren kann.

Arzneimittel-Resistenzen: globale Gesundheitskrise

Dass wissenschaftlicher Erfolg und wirtschaftlicher Fracasso eng beieinander liegen, zeigt das Beispiel des kalifornischen Unternehmens Achaogen (Pharma Fakten berichtete). Das Unternehmen hatte eigentlich alles richtig gemacht: Ein neues Antibiotikum entwickelt und zugelassen, ein weiteres in der Pipeline, Verkauf angelaufen. Doch die Firma ist pleite. Auch Melinta Therapeutics ging es so: Das Unternehmen hat sogar fünf zugelassene Antibiotika, zwei davon auch in Europa. Die Schuldenlast trieb es in die Insolvenz. Melinta arbeitet noch weiter und hofft auf eine Lösung.

Beide Unternehmen hatten übrigens für ihre Forschung öffentliche Forschungsgelder bekommen – insgesamt rund 300 Millionen US-Dollar. Gereicht hat es trotzdem nicht. Offenbar machen Finanzspritzen aus einem untauglichen Geschäftsmodell kein taugliches.

Antibiotika-Forschung: kein funktionierendes Geschäftsmodell. ©iStock.com/dragana991
Antibiotika-Forschung: kein funktionierendes Geschäftsmodell. ©iStock.com/dragana991

Melinta wirbt mit dem Spruch „Contagious Ideas to cure serious infections”. Ansteckende Ideen – genau die werden gesucht, um die Entwicklung neuer resistenzbrechender Medikamente auf eine solide finanzielle Basis zu stellen. Die Allianz beklagt, dass trotz aller Bekenntnisse bisher keine Regierung die Bedingungen für die Bewertung und Erstattung von Antibiotika geändert hat. Über Pilotprojekte wie in Großbritannien ist man nicht hinausgekommen (Pharma Fakten berichtete). Dort sollen forschende Pharmaunternehmen in einem Subskriptions-ähnlichen Bezahlmodell („‘subscription’ style payment model“) im Voraus und nach dem Nutzen bezahlt werden, den das neue Antibiotikum für das staatliche Gesundheitssystem NHS erwarten lässt.

Dies werde es für die Unternehmen attraktiver machen, die rund eine Milliarde Pfund für die Entwicklung eines neuen Medikaments zu investieren, weil sie auch bezahlt werden, wenn es nach Zulassung nicht großflächig in den Verkauf geht, sondern als Reserveantibiotikum gelagert wird, wie es in der Pressemitteilung hieß.

Die Sorge ist nun, dass das Investitionsvolumen für neue resistenz-brechende Arzneimittel sogar abnehmen wird – angesichts der Szenarien das Rezept für die nächste globale Gesundheitskrise. Ganz nebenbei wirft das Beispiel der Arzneimittel-Resistenzen auch einen Blick auf die menschliche Risikowahrnehmung und -bewertung. Schon heute sterben durch ihre Folgen mehr Menschen, als es vermutlich an dem aktuell grassierenden Corona-Virus jemals tun werden.

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