Arzneimittel- und Impfstoffforschung, Aufstockung von Intensivbetten, Ausgangsbeschränkungen und „social distancing“: Aktuell geht es darum, alles zu tun, um Menschenleben zu retten. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat trotzdem zu Zuversicht aufgerufen: „Es wird eine Zeit nach Corona geben“, betonte er. Damit mag er Recht haben – aber Tatsache ist auch: Es gibt viele weitere Krankheitserreger aus der Tierwelt, die das Potenzial haben sich großflächig unter Menschen auszubreiten. Auch wenn das momentan niemand hören will: Nach der Pandemie könnte vor der Pandemie sein.
„Jedes Jahr springen Viren von Tieren auf die menschliche Bevölkerung über“, so Meulien, Chef der IMI – eine öffentlich-private Partnerschaft zwischen Europäischer Union und Pharmaindustrie. Das ist erstmal nichts Ungewöhnliches. Doch: „Umso näher wir an den Tieren leben und umso dichter besiedelt menschliche Wohngebiete sind, desto mehr dieser ‚Sprünge‘ werden wir sehen“. Der jeweilige Krankheitserreger muss diesen „Sprung“ nicht unbedingt überleben. Aber weil Viren ständig mutieren und sich an ihre Umgebung anpassen, „ist es nur eine Frage der Zeit, bis ein bestimmtes, neuartiges Virus die notwendige Ausrüstung besitzt, um den Menschen zu infizieren“, erklärt Meulien. So war es auch bei SARS-CoV-2, das seinen Ursprung wohl in Wildtieren hat.
„Zunehmende Verwundbarkeit durch Pandemien“
Vor diesem Hintergrund hat die Wissenschaftsjournalistin Sonia Shah einen Beitrag für die älteste US-amerikanische Wochenzeitschrift „The Nation“ geschrieben. Die Botschaft: „Du denkst, exotische Tiere sind schuld am Coronavirus? Denk nochmal drüber nach.” Laut ihrem Artikel, der auf Deutsch bei der taz erschienen ist, sind seit 1940 „hunderte krankmachende Erreger in Regionen neu aufgetaucht oder wieder aufgetaucht, wo manche von ihnen nie zuvor beobachtet wurden.“ Beispiele? Das HI-Virus. Oder Ebola in Westafrika.
Die große Mehrheit dieser Erreger hat ihren Ursprung in Haus-, Nutz- und – vor allem – Wildtieren. Shah ist es wichtig zu betonen: Die meisten Mikroben – wie Bakterien, Pilze oder Viren – leben in den Tieren, ohne ihnen zu schaden. Die „Schuld“ ist also nicht bei ihnen zu suchen, sagt sie. Unsere „zunehmende Verwundbarkeit durch Pandemien“ habe stattdessen eine tiefere Ursache: „die immer raschere Zerstörung von Lebensräumen.“ Sie erklärt: „Durch die immer massivere Abholzung der Wälder und die wachsende Urbanisierung haben wir diesen Mikroben Wege eröffnet, den menschlichen Körper zu erreichen und sich entsprechend anzupassen.“ In einem UN-Bericht aus 2019 zeichnete der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) ein alarmierendes Bild: Demnach verschwindet die Natur in einer noch nie dagewesenen Geschwindigkeit von der Erdoberfläche; rund eine Millionen Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht. Und für die „Überlebenden“ wird der Platz immer kleiner. „Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie in engen Kontakt mit Menschen kommen“, so Shah. Mikroben, die in den Tieren leben, können so in „unsere Körper gelangen, wo sie sich möglicherweise in tödliche Krankheitserreger verwandeln.“
Verlust von Lebensräumen, Frischmärkte, industrielle Fleischproduktion
Als Beispiel nennt Shah das Ebola-Virus, das seinen Ursprung in Fledermäusen hatte. „Eine 2017 durchgeführte Untersuchung hat gezeigt, dass Ausbrüche des Virus häufiger in solchen Gebieten Zentral- und Westafrikas vorkamen, in denen kurz zuvor Wälder in großem Stil gerodet worden waren“, berichtet sie. Das heißt: Den Tieren wurde ihre Heimat genommen, sie wichen in menschliche Siedlungen aus – wo ihre Mikroben auf Menschen übersprangen und sich zu für sie gefährlichen Krankheitserregern entwickelten.
Eine andere Quelle für Krankheitsausbrüche sind Orte, an denen Tiere in Massen zusammenstehen. Auf Frischmärkten werden verschiedene Spezies nebeneinander angeboten, „die sich in der freien Natur wohl niemals begegnet wären“, meint Shah. Die „Mikroben können fröhlich vom einen zum anderen wandern“. Ähnlich ist es bei der industriellen Fleischproduktion – sie bietet „ideale Bedingungen für die Verwandlung von Mikroben in tödliche Krankheitserreger.“ Shah führt aus: „Wenn beispielsweise Vogelgrippeviren, deren Wirtstiere wildlebende Wasservögel sind, in Geflügelmastbetriebe eindringen, mutieren sie und werden sehr viel gefährlicher als in freier Wildbahn.
Pandemie-Prävention: Umwelt- und Artenschutz
Auch für Tina Baier, Wissenschaftsredakteurin bei der Süddeutschen Zeitung, ist daher klar: Ist die Coronavirus-Krise einmal überstanden, „sollte sie ein Anlass sein, den Umgang des Menschen mit der Umwelt und den darin lebenden Tieren und Pflanzen grundsätzlich zu überdenken.“ Sie fordert: „Abstand halten! Momentan ist es eindeutig der Mensch, der diese Regel nicht einhält und den Wildtieren eine ungesunde Nähe aufzwingt.“ Shah sieht zu großen Teilen die Politik in der Verantwortung: „Wir können […] viel tun, um das Risiko krankmachender Mikroben zu mindern – etwa die Lebensräume der Wildtiere schützen“.
Auch Deutschland trägt hier eine große Verantwortung: „Unser Lebensstil trägt maßgeblich dazu bei“, dass Ökosysteme zerstört werden, erklärte jüngst Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD). Sie verwies während einer Pressekonferenz auf die Regenwaldzerstörung, die für die Importprodukte Soja und Palmöl in Kauf genommen wird. Um dem Ausbruch von Infektionskrankheiten vorzubeugen, müsse in Sachen Naturschutz mehr getan werden, betonte die Politikerin. Wichtig sei es zum Beispiel, den illegalen Handel mit Wildtieren zu stoppen.
Auf die nächste Pandemie vorbereiten
„Wir müssen uns auf mehr Pandemien einstellen“, sagt IMI-Chef Meulien. Wichtig sind daher öffentliche-private Partnerschaften, wie sie in Form der „Zoonose Anticipation and Preparedness Initiative“ (ZAPI) stattfinden (Pharma Fakten berichtete). Gefördert über die IMI, bringt sie Pharmaindustrie, kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sowie öffentliche Forschung zusammen, um sich gemeinsam dem Kampf gegen Zoonosen zu stellen. Zoonosen sind Infektionskrankheiten, die zwischen Mensch und Tier übertragen werden. „Im Jahr 2019 zeigte das Projekt, dass bestimmte Antikörper das MERS-Coronavirus davon abhalten können, neue Zellen zu infizieren.“ Die Verantwortlichen überprüfen nun, „ob diese Antikörper auch gegen SARS-CoV-2 wirksam sein könnten“.
„Es gibt noch einiges, was wir [über das neuartige Coronavirus] nicht wissen“. Dessen ist sich Meulien bewusst. Doch das Verständnis der wissenschaftlichen Gemeinschaft über Ursachen, Verbreitung und Folgen des Erregers wächst Tag für Tag. Und auch wenn es momentan kaum vorstellbar ist: Irgendwann wird diese Krise wieder aus den weltweiten Schlagzeilen verschwunden sein. Dann sollte sie vor allem eine Lehre sein. Eine Lehre, die besagt: „Wenn es der Umwelt und ihren Lebewesen schlecht geht, geht es auch dem Menschen nicht gut“, so Tina Baier.
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